350'000 Bilder werden innerhalb von 24 Stunden allein auf Flickr hochgeladen. Zumindest waren es so viele, als der niederländische Künstler Erik Kessels sein Installation «24 Hrs In Photos» realisierte. Um zu zeigen, wie gewaltig die Bilderflut im Netz ist, druckte er alle 350'000 aus und füllte damit mehrere Räume.
Die Masse macht’s, im doppelten Wortsinn: Die Menge an Bildern macht das Werk und seine Wirkung aus und zeigt gleichzeitig, was die Menschenmassen beschäftigt. Kessels neuestes Werk «My Feet» führt dem Betrachter vor Augen: Unzählige Menschen produzieren sich selbst gelangweilt im Netz. Tausende Fuss-Selfies hat Kessels im Internet gesammelt, sogenannte «Footies». Dass der Künstler viele der Bilder durch die Schlagwörter «I’m bored» im Netz gefunden haben will, spricht für sich … oder besser gesagt: gegen die Masse.
Netzkunst – mehr als narzisstische Selbstdarstellung?
Netzkultur sollte trotzdem nicht auf die narzisstische Selbstdarstellung einer verlorenen Generation reduziert werden, sagt Alain Bieber, Kurator der Ausstellung «Ego Update», in der Kessels Werk «My Feet» derzeit zu sehen ist: «Netzkultur ist die neue Popkultur. Aus der Amateurkultur, wie sie im Netz existiert – Virals und Meme und Katzenbilder – entsteht unglaublich viel Neues. Das hat fast Avantgarde-Charakter.»
Die Aussagekraft von Amateur-Bildern – ihre vertraute, und dadurch leicht verständliche Ästhetik und Bildsprache – hat auch der italienische Hacker und Videokünstler Guido Segni erkannt. Für «The Middle Finger Response» hat er Billiglöhnern im Netz einen Euro dafür bezahlt, dass sie ihm ein Foto von sich an ihrem Arbeitsplatz schicken – mit aussagekräftiger Geste. Hunderte Menschen, die für Firmen wie Ebay oder Amazon Kleinstarbeiten verrichten, die der Computer (noch) nicht übernehmen kann, halten ihren Mittelfinger vor die Linse.
Von der Webcam ins Museum
Auch ein Schweizer Künstler hat es in die Ausstellung «Ego Update» geschafft: «Viele Künstler arbeiten mit Found-Footage – mit fremden Bildern – aus Webcams. Aber niemand macht das so stark wie Kurt Caviezel», so Alain Bieber beeindruckt. Caviezel zapft öffentlich zugängige Webcams an und archiviert die Bilder, bevor sie wieder überschrieben werden. Über drei Milliarden Bilder hat Kurt Caviezel auf diese Weise bereits gesammelt: voyeuristische Blicke in Wohn- und Schlafzimmer wildfremder Menschen.
In der Ausstellung «Ego Update» hängt eine Auswahl ausgedruckter Webcam-Bilder – und verstört die Betrachter sichtlich, wie Alain Bieber erzählt. «Darf man das überhaupt?», fragen sich viele Besucher. Rechtlich bewege sich der Künstler in einer Grauzone, erklärt Alain Bieber. «Auf jeden Fall wäre es sicher nicht gut, wenn die abgebildeten Personen sich hier im Museum wiederfinden würden.»
Im Internet ist Jetzt
Im Internet sehen wir häufig über das Problem der mangelnden Abgrenzung zwischen privat und öffentlich hinweg, so sehr haben wir uns an intime Bilderfluten gewöhnt. Die Kunst führt uns das vor Augen, indem sie die Bilder auf grosse Papierbögen ausdruckt, Zusammenhänge her- und infrage stellt.
Kunstwerke mit Found-Footage aus dem Netz sensibilisieren nicht nur für einen kritischen Umgang mit Bildern. Sie machen deutlich, dass das Internet ein kreativer Freiraum ist, in dem Amateure und Künstler gleichermassen am Zahn der Zeit bohren: Netzkultur ist Jetzt-Kultur.