Im Oktober 1956 verunfallt Hildebrand Gurlitt auf der Rückfahrt von Berlin nach Düsseldorf, wo er als Direktor der Kunsthalle eine unglaubliche Schaffenskraft bewiesen hat: In nur fünf Jahren hat er 70 Ausstellungen organisiert – mit so klingenden Namen wie Fernand Léger, Pablo Picasso, Max Ernst oder Emil Nolde. Es sind genau die Maler, die er seit Beginn seiner Karriere verehrt hat.
Nach zwei Wochen im Koma stirbt Gurlitt. Gut möglich, dass seine Frau gar nicht alles bei den Ärzten unternommen hat, damit er jemals wieder aufwachte. Denn das linke Bein hatte man ihrem Mann amputiert. Die Vorstellung, mit einem invaliden Mann zu leben, muss Helene Gurlitt nicht gefallen haben.
Die Nachrufe auf Hildebrand Gurlitt waren aber des Lobes voll. Man lobte seine intellektuelle Agilität und sein Geschick bei Verhandlungen. Man bewunderte, wie er die «dunklen Zeiten mit bescheidener Arbeit als Kunsthändler» überstanden habe.
Mut und hohe Risiken
Knapp 70 Jahre nach Hildebrand Gurlitts plötzlichem Tod liefert uns die britische Journalistin Catherine Hickley einen etwas anderen Nachruf. Und einen, der wahrer ist. Denn er beruht auf akribischen und gründlichen Recherchen. Hickley beschreibt Gurlitt als Mann mit stupenden Kunstkenntnissen und gutem Verhandlungsgespür.
Bereits als 29-Jähriger wird er 1925 Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau. Mit seinen Ausstellungen mit deutschen Expressionisten macht er sich im bürgerlichen Milieu aber unbeliebt und wird schliesslich entlassen. Sein Mut kostet Gurlitt auch in Hamburg den Direktionsposten.
In seiner Galerie Kunstkabinett Dr. H. Gurlitt, wo Samuel Beckett oft zu Besuch ist, geht er hohe Risiken ein. Die Nazis sind schon an der Macht, als Hildebrand Gurlitt 1936 Max Beckmann zeigt und den Kontakt mit jüdischen Sammlern pflegt.
Gewieft und trickreich
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Catherine Hickley zeigt aber auch, dass Hildebrand Gurlitts Ambitionen als Kunsthändler und -liebhaber so gross waren, dass er sich – selbst jüdischer Abstammung – von den Nazis als lizenzierter Kunsthändler einspannen liess. So handelte er ab Ende 1938 im Auftrag der Hitler-Regimes mit «Entarteter Kunst». Mit Werken von Max Pechstein, Franz Marc oder Max Beckmann, die die Nazis aus den Museen hatten entfernen lassen, machte er Geld für die Nazis. Aber auch für sich.
Wie gewieft und trickreich Gurlitt als Kunsthändler der Nazis war, macht Hickley am Verkauf von Franz Marcs «Schicksal der Tiere» deutlich. Georg Schmidt, dem damaligen Direktor des Kunstmuseums Basel, machte er mit der Behauptung Druck, dass sich noch einige für das Bild interessieren. Schmidt bot schliesslich 6000 Franken. Dem Propaganda-Ministerium aber gab Gurlitt eine Verkaufssumme von 5000 Franken an. Zur Differenz von 1000 Franken knöpfte Gurlitt Schmidt zusätzlich eine Kommission von 900 Franken ab. Mittelsmann war dabei Gurlitts Freund, der Schweizer Maler und Schriftsteller Karl Ballmer.
Ohne moralische Wertung
Auch mit jüdischen Kunsthändlern und Sammlern, denen es nach 1938 verboten war, mit Kunst zu handeln, machte er gute Geschäfte. Dem jüdischen Sammler Ernst Julius Wolffson kaufte er beispielsweise neun Menzel-Zeichnungen für 2'550 Reichsmark ab, um sie wenige Tage später mit einem Gewinn von 25 Prozent weiterzuverkaufen. Diese «dunkle Zeit» hat Hildebrand Gurlitt reich gemacht. Allein 1943 hat er 200‘000 Reichsmark verdient, umgerechnet 1 Million Euro.
In sechs Kapitel skizziert Catherine Hickley ohne moralischen Wertung das Psychogramm eines Mannes, der Kunst und Geld geliebt und als Vierteljude und Nazi-Gegner die akute Notlage jüdischer Sammler während der Nazi-Herrschaft ausgenutzt hat. «Hildebrands Karriere während des 3. Reiches erinnert daran, dass ein kriminelles Regime seine Bürger kriminalisiert», schreibt Hickley.
Hickley erzählt Gurlitts Lebensgeschichte, die kein Einzelfall ist: Viele Deutsche haben während des Nazi-Terrors geschwiegen und die Wohnungen und Geschäfte deportierter Juden gerne übernommen.
Der traumatisierte Sohn
Sechs weitere Kapitel widmet Hickley Hildebrand Gurlitts Sohn Cornelius und der Sammlung, von deren Existenz die ganze Kunstwelt erst 2012 erfuhr. Einige müssen längst geahnt haben, dass da noch ein grosser Bilderschatz vorhanden war, obwohl Hildebrand Gurlitt bei den Befragungen der Amerikanischen Allierten stets beteuert hatte, nichts zu verstecken. Denn Gurlitts Frau Helene und sein Sohn Cornelius hatten immer wieder Preziosen aus der Sammlung zum Verkauf angeboten. Hickley entwirft dabei das Bild eines menschenscheuen, traumatisierten Mannes – traumatisiert von der Bombardierung Dresdens, die er am 13. Februar 1945 als 13-Jähriger erlebt hat, und von den Erwartungen seines ambitionierten Vaters.
Mit ihrem erst auf Englisch vorliegenden Buch «The Munich Art Hoard» bietet uns die britische Journalistin Catherine Hickley einen packenden Lesestoff in einem Fall, der noch längst nicht abgeschlossen ist.