Das Mailand der 1950er-Jahre ist voller Ruinen des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig kündigt sich dort das Wirtschaftswunder an und ist in Sachen Design auf dem Weg zur europäischen Metropole: Unternehmen wie der Panettone-Hersteller Motta, der Reifenfabrikant Pirelli, der Schreibmaschinenbauer Olivetti und das Luxuswarenhaus La Rinascente sind auf der Suche nach neuen, fortschrittlichen Kommunikationskonzepten.
Mailand – Schmelztiegel der Kreativität
Es herrscht Aufbruchsstimmung. Einige der besten Kreativen jener Zeit arbeiten in Mailand, wie zum Beispiel Alfred Andersch, Max Frisch, Hans Falk oder Niki de St. Phalle – ein Magnet für Schweizer Grafikerinnen und Designer, Menschen wie Lora Lamm.
Lora Lamm, 1928 in Arosa geboren, absolviert von 1946 bis 1951 die Kunstgewerbeschule in Zürich. Anders als viele ihrer Kolleginnen geht sie nach ihrer Ausbildung nicht ins Modemekka Paris, sondern nach Mailand. Mailand war das Ziel von vielen Grafikern und Designern aus der Schweiz: Alexander Schawinski, Max Huber, Carlo Vivarelli, Walter Ballmer, Aldo Calabresi und auch Bruno Monguzzi. Lora Lamms Ausbildung an der Zürcher Kunstgewerbeschule bei Lehrern wie Johannes Itten, Ernst Keller, oder Ernst Gubler geniesst in Mailand einen ausgezeichneten Ruf. In Mailand verbindet sich die solide Schweizer Ausbildung mit italienischer Kreativität.
Blitzkarriere in der Männerwelt der Werbung
Lora Lamm beginnt im Studio Boggeri, arbeitet für Motta, kommt dank einer Empfehlung des Schweizer Grafikers Max Huber zu La Rinascente und wird dort 1958 Atelierchefin. Dass eine Frau sich in der Männerwelt des Mailänder Designs durchsetzen kann, ist alles andere als selbstverständlich. Später arbeitet sie auch für Pirelli, Niggi, die Mailänder Molkerei Centrale del Latte und Elizabeth Arden.
Das neue Frauenbild: luftige, extravagante, weltofffene Wesen
1960 ist Lora Lamm eine berühmte Frau. Sie hat das Mailänder Design der 60er-Jahre geprägt und gilt bereits zu Lebzeiten als Design-Pionierin. Das Warenhaus La Rinascente umwirbt die weibliche Kundschaft mit neuen Kollektionen – eine Kundschaft, die sich bislang bei Schneidern und nicht im Kaufhaus eingedeckt. So entsteht erstmals Werbung, die Frauen direkt ansprechen soll.
Lora Lamms Plakate zeigen nicht die verbreitete Heim und Herd-Idylle. Es sind auch keine explizit erotischen Fitness-Göttinen so wie heute. Es sind verzauberte, luftige Wesen, frisch, extravagant, weltoffen und lustig. Genau diese Modernität bewirkt die internationale Ausstrahlung des italienischen Designs.
Werbung ohne Humor ist platt
Eine Anekdote erzählt die Entstehungsgeschichte des Bademoden-Plakats «Estate e mare» aus dem Jahr 1958: Lora Lamm ist unzufrieden, der erste Entwurf landet im Papierkorb. Die Rückseite des Blattes liegt oben und das Aquarell schimmert leicht durch das Papier hindurch. Da wird Lora Lamm klar, dass eine zweite Frau ins Bild muss: gedacht – getan. Jetzt entspricht der Entwurf Lora Lamms Vorstellungen: Verspielt und ironisch. Ohne Humor, ohne Ironie, sagt Lora Lamm, wirke Werbung einfach nur platt.