Man betritt die Ausstellung über eine Bühne. Und sieht die Welt, leicht erhöht, ein Bisschen anders. Gewohntes aus einem ungewohnten Blickwinkel. Die Kunst von Silvie Defraoui spiele mit dem Betrachter, sagt Christoph Vögele, Kurator des Kunstmuseums Solothurn. «Ich muss bereit sein, mir selber Einbildungen zu machen. Dazu ist die Bühne da. Die Kunst von Silvie Defraoui ist sehr sinnlich, es klingt, es macht, es tut, es bewegt sich was.»
Obszöne Orchideen
Tatsächlich erschliessen sich die meisten Werke in der Ausstellung «Und überdies Projektionen» erst, wenn man sich Zeit nimmt und sich auf sie einlässt. Da ist zum Beispiel ein Videofilm, den man sich auf einem kleinen Monitor ansieht: Eine Kamera fährt durch einen Garten, streift vorbei an Palmen und Orchideen.
Nun sind Blumen ja etwas sehr Schönes und nichts Ungewöhnliches, aber die Kamera geht so nah an diese Pflanzen ran, dass sie monströs, beinahe obszön wirken. Und weil auch das Mikrofon der Kamera ganz dicht über Blätter und Blüten streift, entsteht dazu eine fast beängstigende Geräuschkulisse.
Lilien und Tsunamis
«Das ist absolut typisch für Silvie Defraoui: Sie bringt Schrecken und Schönheit zusammen», sagt Christoph Vögele. «Die Ambivalenz zwischen ‹harmlos schön› und ‹schrecklich verführerisch› zieht sie definitiv an.»
Defraouis Kunst lebt von Kontrasten – schön zu sehen auf einer Reihe von grossen Plakaten: Riesenhafte, wunderschöne Blumen stellt die Künstlerin vor erschreckende Bilder von Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen. Lilien und Tsunamis, Kontraste und Doppeldeutigkeiten – nichts ist so, wie es zu sein scheint.
«Archives du futur»
Silvie Defraoui ist heute 79 Jahre alt. Schon in den 70er-Jahren hat sie mit der damals noch sehr neuen Kunstform des Videos experimentiert. Zusammen mit ihrem Mann Chérif Defraoui arbeitete Silvie ab 1975 an den «Archives du futur» – einer intensiven Beschäftigung mit Zeit, Existenz und Wahrnehmung. Auch nach dem Tod ihres Partners 1994 führte sie das Langzeitwerk mit Videos, Fotos und Installationen weiter. Die Solothurner Ausstellung steht in einer langen Reihe von Präsentationen mit Stationen in Kassel, Zürich, St. Gallen, Genf, Thessaloniki sowie zuletzt im Centre Culturel Suisse in Paris.
Die Künstlerin sagt: «Meine Arbeit beruht nicht auf einem Stil, sondern auf einem Fortschreiten der Erfahrung, der Experimente, die ich mit der Welt um mich herum mache.» Als langjährige Professorin an der Kunstschule in Genf hat Silvie Defraoui ihr Wissen und Können weitergegeben. Viele junge Videokünstlerinnen und -künstler dieses Genres sehen Defraoui als Vorbild und berufen sich auf sie.
Eine Rolle, die Silvie Defraoui schmeichelt: «Das gefällt mir natürlich. Nicht in dem Sinn, dass mich das eitel machen würde, aber ich habe viele Freunde gewonnen dadurch. Und ich habe junge Leute um mich herum, das ist sehr interessant und angenehm. Man verliert so den Faden mit der neuen Kunst nicht.»
Sinnlich und nachdenklich
Beitrag zum Thema
Die umfangreiche Ausstellung in Solothurn – ein eigentlicher Parcours durch sieben Säle – wird der Kunst von Defraoui gerecht. Stetige Perspektivenwechsel und verschiedene Projektionsformen: vertikal auf den Boden, frontal auf die Wand oder auf Screens im Raum.
«Und überdies Projektionen» zeigt die neusten Werke Defraouis im Kontext früherer Arbeiten. Die Ausstellung lässt Raum, wo es diesen braucht, ist vielfältig wie das Werk selbst und wirkt dennoch nicht erschlagend.