Jimmy Corrigan, ein frustrierter Büroangestellter Mitte 30, ist einsam, schwärmt für eine Kollegin, die er nicht anzusprechen wagt, und hat keine soziale Beziehungen. Ausser zu seiner Mutter, mit der er mehrmals täglich telefoniert. Eines Tages ist aber nicht seine Mutter am Telefon, sondern sein Vater und lädt ihn zu sich ein. Das kommt völlig überraschend: Der Vater hat Mutter und Sohn kurz nach Jimmys Geburt verlassen.
Chris Ware weiss, wovon er spricht: Auch sein Vater verliess ihn kurz nach der Geburt. Auch sein Vater rief ihn rund dreissig Jahre später aus heiterem Himmel an. Und es ist kein Zufall, dass Jimmy Corrigan seinem Autor verdächtig ähnlich sieht.
Schmerzhafte Präzision
In «Jimmy Corrigan» schildert Chris Ware die erste und wohl einzige Begegnung zwischen Vater und Sohn. Eigentlich, sagt Chris Ware im Gespräch mit der für ihn typischen Tiefstapelei, seien die Ereignisse in «Jimmy Corrigan» wirklich langweilig: «Jimmy trifft seinen Vater. Ein paar Dinge geschehen. Dann kehrt Jimmy wieder nach Hause zurück.»
Langweilig? Tatsächlich geschieht nur wenig, bis auf ein paar kleinere, bis mittlere Pannen wie ein Autounfall, die die Annäherung von Vater und Sohn behindern. Aber nicht die tatsächlichen Ereignisse sind in «Jimmy Corrigan» wichtig, sondern die Emotionen, die Chris Ware mit geradezu schmerzhafter Präzision seziert. Wichtig sind auch die Stimmungen, die Leere und die Entfremdung zwischen zwei Menschen, die zu kommunizieren versuchen, aber nicht zueinander finden.
Der Rhythmus des Nichtssagenden
Er habe versucht, sagt Chris Ware im Gespräch, «den Rhythmus des Lebens zu erfassen, die kleinen Gesten, die Banalitäten und das Nichtssagende, die den grössten Teil unserer Kommunikation ausmachen.»
Statt, wie die meisten Comics, die dynamischen Höhepunkte jeder Handlung zu inszenieren, zeigt Chris Ware die Momente, die normalerweise im weissen Rand zwischen den Einzelbildern untergehen. So dröselt er ein Schweigen auch schon mal auf in eine endlose Reihe winziger, stummer Bilder, bisweilen durchbrochen von Jimmys Erinnerungen, von beiläufigen Gedanken, von Wunschträumen oder Mordgelüsten.
Immer wieder unterbricht Chris Ware die Begegnung zwischen Vater und Sohn mit Rückblenden: Er schildert die triste Kindheit und Jugend von Jimmy, und er verknüpft Jimmys Schicksal mit dem seines Grossvaters: Auch dieser wurde von seinem Vater verlassen. So schafft Chris Ware eine vier Generationen umspannende Familiensaga um väterliches Versagen und unerträgliche Einsamkeit.
Verdrängte Gefühle
«Jimmy Corrigan» ist von einer Dichte und Eindringlichkeit, von einer beklemmenden Wahrhaftigkeit und schier hoffnungslosen Traurigkeit, die ihresgleichen suchen. Das liegt nicht zuletzt an Chris Wares Bildsprache, die in einem vermeintlichen Widerspruch zum Inhalt steht: Auf den ersten Blick wirken Wares Comics kühl, glatt und perfektionistisch. Der Strich ist kontrolliert, die Seiten sind kunstvoll komponiert. Unter dieser geradezu pedantisch sauberen Oberfläche jedoch gären die Emotionen, tief, roh und beklemmend.
Unsere ganze Kultur basiert darauf, sagt Chris Ware, «diese Gefühle zu verdrängen und alles so sauber wie nur möglich zu präsentieren. Natürlich will auch ich etwas schaffen, das hübsch anzuschauen ist. Gleichzeitig – und das ist viel wichtiger – will ich aber etwas vermitteln, das sich real anfühlt und emotional bewegt.»
Mit «Jimmy Corrigan» hat Chris Ware neue Massstäbe gesetzt, formal und inhaltlich, als Erzähler und als Gestalter. Er hat die Ausdrucksmöglichkeiten des Comics erweitert und revolutioniert, und damit hat er entscheidend dazu beigetragen, dass der Comic heute als literarische Gattung ernster genommen wird, als je zuvor.