Der Unterschied könnte grösser nicht sein: Eben noch fuhr man im Zug durch ostdeutsche Ödnis, vorbei an tristen Bahnhöfen und baufälligen Fabriken. Dann sitzt man bei den Pechtls im Wohnzimmer in Leipzig-Schleussig. Alte Villa, hohe Decken, Fischgrat-Parkett, und die Frage lautet: Weisswein oder Spritz?
Viel Kunst und versilberte Eierbecher
Martina und Volker Pechtl sind offene und vor allem literaturinteressierte Geister. Prädestiniert, um als Literaturbotschafter die Schweizer Literaturszene zu erkunden, was sie im Verlauf des letzten Jahres auch getan haben. Nun, quasi zum Abschluss, haben sie den Schweizer Autor Tim Krohn zur «Wohnzimmerlesung» eingeladen – zur Lesung in ihrer privaten Stube.
Wobei «Salon» bei den Pechtls treffender ist: Viel Kunst hängt an den Wänden, allerorts stehen Skulpturen. In einer Vitrine sind versilberte Eierbecher aufgereiht, daneben Zuckerdosen und feine Porzellantassen mit Goldrand, Meissner vermutlich. Das Leipziger Grossbürgertum hält Hof – aber so unverkrampft, dass man sich gleich willkommen fühlt.
Nachbarskinder tragen Weisswein durch die Stube, Käse und Brot (Schweizbezug!) holt man sich gleich selbst aus der Küche. Man wähnt sich bei Freunden, der Umgang ist ungezwungen und herzlich. Wären da nicht die zwei Techniker vom MDR mit ihrer Kamera.
Alle Augen auf Tim Krohn – fast alle
Dass plötzlich 50 Leute ihr Wohnzimmer in Beschlag nehmen, stört die Pechtls nicht. Es sei ein bewusster Entscheid gewesen, etwas für die Buchmesse zu tun.
Dann liest Tim Krohn Auszüge aus seinem Bändchen «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart». Viele Gäste hören seinen Namen zum ersten Mal, doch das spielt keine Rolle. Er erntet Lacher und bei den anzüglichen Stellen ein paar verlegene Räusperer. Krohn zieht die Leute mit seiner Geschichte rasch in seinen Bann.
Nur die eigene Konzentration will sich nicht recht einstellen. Der Blick schweift ab. Zur Lampenkonstruktion über dem Esstisch, zu den Giacometti-ähnlichen Figuren, den exotischen Masken, zur Vitrine mit dem Goldrand-Porzellan. Man reimt sich seine eigenen Geschichten zusammen aus dem privaten Sammelsurium. Ist man der Einzige, der sich als Voyeur ertappt?
Die Messehallen sind meilenweit weg
Ein Blick ins Programm von «Leipzig liest» klärt auf: «Wohnzimmerlesung – geschlossene Veranstaltung». Die meisten, die hier sind, wurden eingeladen. Eine gute Freundin vom «Diogenes»-Verlag ist da, Bekannte aus dem Tennisclub, viele aus der Nachbarschaft.
Den Besuchern gefällt es. Tim Krohn ist in bester Laune, geistreich und beredt wie seine Gastgeber. Schade nur, bleibt hier eine kleine Schicht für sich – Leipzig könnte mehr solche Lesungen vertragen.
Ein Trostpflaster: Tim Krohn wird in Leipzig an einem weiteren speziellen Ort lesen. Dann aber nicht neben Meissen-Porzellan, sondern in einem Matratzenlager.