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Der erste Satz: Charles Lewinsky
Aus Kultur Extras vom 07.11.2016.
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Schweizer Buchpreis Charles Lewinsky gibt einem Monster eine zweite Chance

Der Schweizer Bestsellerautor wagt mit seinem Buch ein Experiment. «Andersen» ist eine Geschichte über menschliche Niedertracht – abgründig und erschreckend. Das Experiment ist geglückt: Lewinskys Parabel über das Böse überzeugt vom ersten Satz an.

Wie sieht es aus, das personifizierte Böse? Gibt es Menschen, die stolz darauf sind, andere zu quälen? Denen Scham und Reue völlig fremd sind? Charles Lewinsky liefert in «Andersen» den Beweis: Ja, es gibt sie. Die Weltgeschichte hat immer wieder solche Leute hervorgebracht.

Eine Wiedergeburt

«Dunkel. Nicht das kalte, fugenlose Dunkel einer Zelle. Eine warme Dunkelheit. Ich weiss nicht, wo ich bin». Das ist der allererste Satz, den wir von Jonas, dem Ich-Erzähler, erfahren. Und erst langsam begreifen wir: Er steckt noch im Mutterbauch, ist ein Embryo. Aber ein Ungeborenes weiss doch noch nicht, was eine Zelle ist. Wie also kann er den Uterus mit einem Gefängnis vergleichen?

Die Antwort ist einfach: Jonas ist kein normaler Fötus; denn er ist schon einmal geboren worden; hat das Leben bereits durchgespielt, von der Geburt bis zum Tod. Der ersten Teil seines Erwachsenendaseins bestand darin, Leuten Geständnisse abzuringen.

In dieser Disziplin hat er es zur Perfektion gebracht: «Wirklich schwierig wird es immer dann, wenn einer tatsächlich nichts zu gestehen hat. Wenn das ganze Geschrei und Gejammere unnötig war, weil es gar nichts gab, was man aus ihm hätte herausholen können.» Präzise Sätze von erschreckender Gnadenlosigkeit.

«Perfekt ausgedachte Lebensgeschichte»

Und genau diese Kaltblütigkeit muss es wohl auch gewesen sein, die Jonas damals – nachdem sich die Machtverhältnisse verschoben hatten – auf der Flucht gerettet hat:

«Als ich Andersen wurde, beschloss, Andersen zu werden, waren sie nur noch zehn Kilometer entfernt. Ich war vorbereitet, perfekt gefälschte Papiere und eine perfekt ausgedachte Lebensgeschichte. Ich habe an alles gedacht. Man muss immer vorausdenken.»

Eine verblüffende Idee

Ausgerechnet dieser Charakterlump, der bereits im alten Leben seine Haut hatte retten können, erhält nun also nochmals die Chance, von vorne zu beginnen. Eine verblüffende Idee, die Charles Lewinsky hier durchspielt: abgründig, erschreckend, hinterhältig.

Denn wir Leserinnen und Leser begreifen sehr bald: Der «Neue» ist noch ganz der «Alte». Jonas erkennt nicht die Notwendigkeit einer Läuterung.

Er sieht vielmehr nur eine Aufgabe nach seiner Wiedergeburt: Er will herausfinden, was aus ihm damals, im ersten Leben – nach seiner Wandlung zu Andersen – geworden ist; eigenartigerweise lässt ihn sein genaues Erinnerungsvermögen ausgerechnet in diesem Punkt im Stich. So haut er denn auch für diese Spurensuche bereits mit 13 von zu Hause ab; hinterlässt verzweifelte Eltern.

Parabel des Bösen

Raffiniert treibt Charles Lewinsky seine komplex gebaute Story vorwärts, macht kühne Zeitsprünge und lässt uns im Kopf dieses Monsters mitreiten. Allmählich erahnen wir: Es gibt nur etwas, das dem Teufel gefährlich werden könnte. Positive Gefühle wie Zuneigung und Liebe.

Mit «Andersen» hat Charles Lewinsky eine kluge Abhandlung über menschliche Niedertracht geschrieben. Sprachlich dicht und unheimlich; gleichzeitig unterhaltsam und temporeich. Indirekt bleibt der Autor seiner Thematik – Drittes Reich, Judenverfolgung, Holocaust – treu; unschwer ist in Jonas ein ehemaliger Nazischerge zu erkennen.

Aber gerade weil die Umstände seines Handelns nie explizit definiert werden, liest sich sein Roman wie eine Parabel des Bösen; und er kann problemlos auch vor dem Hintergrund jüngerer politischer Ereignisse verstanden werden. Der Mensch lernt bekanntlich nichts aus der Geschichte. Auch dafür liefert Charles Lewinsky in «Andersen» einen irritierenden Beweis.

Märchenkönig und Massenmörder

Ist es Zufall, dass «Andersen» einen Namen trägt, der an den Märchenkönig Christian Andersen und den Massenmörders Anders Breivik erinnert? Sicher nicht; Lewinsky überlässt nichts dem Zufall, sondern ist ein cleverer und kreativer Kompositeur, der inhaltlich und stilistisch neue Wege geht.

Das Experiment ist geglückt. Mit «Andersen» hat Charles Lewinsky definitiv bewiesen, dass er zu den innovativsten und phantasievollsten Autoren der heutigen Schweizer Literatur zählt.

Sendehinweis

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  • Live-Übertragung der Preisverleihung, Radio SRF 2 Kultur, 13.11., 11.03 Uhr.
  • Sondersendung zum Buchpreis, Radio SRF 2 Kultur, 13.11., 21:00 Uhr.
  • Der Schweizer Buchpreis, Radio SRF 1, 13.11., 14:06 Uhr.

Die Nominierten

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Buchhinweis

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Charles Lewinsky: «Andersen». Nagel & Kimche, 2016.

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