Wie der Papst wurde er empfangen, als er 1977 Angoulême besuchte: Hergé, der Schöpfer von Tim und Struppi. Als er auf dem Weg zu seiner Ausstellung durch die Altstadt schlenderte, standen die ganze Comic-Szene und die halbe Bevölkerung Angoulêmes Spalier und huldigten dem Meister.
Dieses Bild sagt viel aus über die Liebe Frankreichs zu den Comics und ihren Schöpfern – so etwas ist bei uns undenkbar. Letztlich lockt nicht nur das Geschäft, sondern diese Liebe zum Comic Jahr für Jahr so viele Menschen aus aller Welt in diese Stadt, deren Strassenschilder die Form von Sprechblasen haben.
Grundsteine zum Erfolg: Vision und gute Vernetzung
Der Besuch Hergés schliesslich adelte das damals noch bescheidene Comic-Festival – und machte es dank der von seiner Präsenz angelockten Medien zum nationalen Anlass. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Die Anfänge des Comic-Festivals waren bescheiden. Als 1974 ein paar Comic-Verrückte den ersten Salon auf die Beine stellten, fanden sich gerade einmal ein paar Künstler und ein paar Verlage ein.
Die Festivalgründer aber waren hartnäckig und ernsthaft. Und vor allem: Sie hatten eine Vision und waren nicht nur mit der Comicszene, sondern auch mit der städtischen Verwaltung gut vernetzt. Die Stadt Angoulême wiederum begriff den Wert des Comicfestivals für das Stadtmarketing früh.
Minister geben sich die Klinke in die Hand
Angoulêmes Bekenntnis zum Comic erschöpft sich nicht in der Gestaltung der Strassenschilder: Angoulême hat sich im Lauf der letzten dreissig Jahre konsequent als die französische, ja europäische Metropole des Bilds positioniert. Die Stadt beherbergt das europaweit einmalige Comic-Museum und eine angesehene Kunsthochschule und fördert die Niederlassung von Firmen, die die Entwicklung digitaler Bildwelten vorantreiben.
All das schuf einen kreativen Pool rund um das 1999 gegründete «Pôle Image Magelis», der wiederum zahlreiche Studios und Produktionsfirmen aus den Bereichen Comics, Computergraphik, Computergames, Animation und Internet anlockte.
Der Stellenwert des Festivals selber misst sich an der Anzahl hochrangiger Politiker, die es besuchen: Seit François Mitterands Kulturminister Jack Lang 1984 den Bau eines nationalen Comic-Zentrums ankündigte, geben sich Jahr für Jahr Minister, Parlamentarier und das regionale Politpersonal die Klinke in die Hand.
Hoffnungslos überlaufener Vorhof zur Hölle
Ich werde oft gefragt, was ich in Angoulême so treibe. Und was für Entdeckungen ich gemacht habe. Auf diese Fragen habe ich keine sinnvolle Antwort.
Denn eigentlich gibt es etliche Gründe, die gegen einen Besuch des Internationalen Comic-Festivals in Angoulême sprechen: Mit seinen über 200'000 Besucherinnen und Besuchern ist der Anlass hoffnungslos überlaufen. Drinnen – vor den Verlagsständen, bei den Signierstunden und in den Ausstellungen – kann man sich kaum bewegen. Es ist heiss und stickig. Aber auch draussen ist es nicht angenehmer: Meistens ist es kalt, es regnet oder es schneit.
Auch am Programm des Festivals – an den Ausstellungen, den Diskussionsrunden und der Preisverleihung – wird gerne herumgemäkelt; nicht selten zu Recht.
Kurz: Angoulême fühlt sich an wie der Vorhof zur Hölle.
Herumhängen und den Mund fusslig quasseln
Film- und Literaturkritiker haben es da besser. An einem Filmfestival verbringt man die meiste Zeit in einem dunklen Saal und starrt auf eine Leinwand. An einem Literaturfestival verbringt man die meiste Zeit in einem halbdunklen Saal und hört einem Autor zu. Das klingt halbwegs seriös.
An einem Comic-Festival hingegen – nun, da steht und hängt man herum und redet sich den Mund fusselig, vom späten Vormittag bis in die frühen Morgenstunden. Man redet mit Autoren und Zeichnern, mit Verlegern und Fachleuten, man redet mit Freunden und Bekannten und lernt neue Gesichter kennen. Man tankt vier Tage lang Informationen, Anregungen, Ideen und Inspirationen. Zum Comiclesen bleibt keine Zeit.
In der Bar sind alle gleich
Einzigartig an Angoulême ist, dass tatsächlich alle da sind: Vom marktführenden Verlag bis hin zum Selbstverleger, dessen Siebdruckhefte in Auflagen von 50 Exemplaren erscheinen. Von französischen Stars mit Millionenauflagen bis hin zu unbekannten Zeichnern aus Südkorea, Russland oder Portugal. Die Koryphäen von gestern und die Namen von morgen.
Diese Offenheit und diese Konfrontation der unterschiedlichsten Szenen machen Angoulême so lebendig. Der interessierte Besucher nimmt die ganze Breite des aktuellen Comic-Schaffens wahr – und an der Bar des «Chat Noir» oder des Hôtel Mercure sind alle gleich. Kein anderes soziales Netzwerk kann das ersetzen.
Diesen Netzwerk-Charakter eines Comic-Festivals geniessen vor allem die Autoren und Zeichner. «Comiczeichnen ist ein einsamer Job», betont der Franzose Nicolas de Crécy, der dieses Jahr zu den Anwärtern auf den «Grossen Preis» der Stadt Angoulême für sein Lebenswerk gilt. «Man arbeitet oft jahrelang allein in seinem Atelier vor sich hin – und deshalb ist es so wichtig, nach Angoulême zu fahren, sich mit Freunden und Bekannten zu treffen und seinen Leserinnen und Lesern zu begegnen.»
Der Lockruf von Angoulême ist unwiderstehlich
Natürlich werden auch dieses Jahr viele über das Festival schimpfen und daran herumkritteln – aber alle werden ihre Hotelzimmer bereits für das nächste Festival buchen. Denn der Lockruf von Angoulême ist unwiderstehlich.
«Angoulême ist ohne Zweifel das wichtigste Comic-Festival in Europa», bestätigt Thierry Groensteen, ehemaliger Direktor des Comicmuseums und Verleger (Editions de l'An2). «Jede Szene braucht einen Ort, an dem sie sich einmal im Jahr trifft und austauscht. Für die internationale Comicszene ist Angoulême dieser Ort.»
Vier Tage und vier Nächte im Comic-Paradies
Und: Wo können erwachsene Menschen vier Tage und vier Nächte lang über Comics reden, debattieren und schwärmen, ohne für verrückt oder kindisch gehalten zu werden?
Und welche andere europäische Stadt nennt ihre wichtigste Fussgängerzone nach einem Comic-Autor? «Rue Hergé» – so heisst Angoulêmes zentrale Einkaufsstrasse heute – die Strasse, die einst die halbe Bevölkerung säumte, um Hergé zu feiern. «Rue Hergé» - In den Ohren eines Comic-Fans klingt das wie der direkte Weg ins Comic-Paradies.