Am 6. Juli 1415 hatte Poggio in Konstanz mit eigenen Augen gesehen, wie die Kirche den böhmischen «Ketzer» Jan Hus bei lebendigem Leib verbrannte. Am 30. Mai 1416 erlebte Poggio dort die Hinrichtung von Hieronymus von Prag und berichtete seinem Freund Leonardo Bruni davon.
Dazwischen, am 18. Mai 1416, verfasste er seinen Brief «Über die Bäder zu Baden». Dieser lässt sich laut der Philosophin Ursula Pia Jauch «als ideale und zeitlose Daseinsmöglichkeit verstehen». Poggio habe mit seinem Brief an seinen Freund Niccolò Niccolì einem ganzen Kulturraum gezeigt, «dass das Wiederanknüpfen an vermeintlich vergangene Daseinsqualitäten, an das Spielerische und das Sinnenfrohe im Menschen, an Frivolität und Heiterkeit, kein eitler Wahn (und schon gar keine Utopie, kein Nirgend-Ort) ist».
Lebensfreude exzellent übersetzt
Es lohnt sich, die neue Übersetzung des Briefes durch den Badener Altphilologen Hans Jörg Schweizer zu lesen. Er hat die Lebensfreude, die in Poggios Zeilen zum Ausdruck kommt, exzellent aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen:
«Die Bäder (…) werden von Männern und Frauen gemeinsam benutzt. Wände trennen sie, und in diesen sind ganz viele Fensterchen eingelassen, durch die sie miteinander trinken und schwatzen, aber auch von der einen nach der anderen Seite sich sehen und sich anfassen können (...) Jedermann darf zu einem Besuch, zu einem Gespräch, einem Scherz und zur Entspannung des Geistes die Bäder der anderen aufsuchen und sich dort aufhalten; so ergibt sich, dass man einen Blick auf die wenig bekleideten Frauen werfen kann, wenn sie aus dem Wasser kommen oder ins Wasser steigen.»
Poggio beschreibt ein Paradies
Diese Freizügigkeit habe nichts Schlüpfriges, betont Poggio und gelangt gegen Ende seines Briefes zu Feststellungen, die für uns heute ein Land der Utopie beschreiben:
«Gar oft beneide ich die Leute hier um ihre Ruhe und verfluche die Verkehrtheit unserer Gesinnung, die wir immer etwas zu gewinnen suchen, immer auf etwas aus sind, die wir Himmel, Erde und Meer durchwühlen, um Geld aus ihnen herauszuklauben – mit keinem Erwerb zufrieden, von keinem Gewinn gesättigt. (…) Immerzu lechzen wir in unersättlicher Gier nach materiellen Gütern und widmen uns niemals unserem Gemüt, niemals unserem Körper.»
In den Bädern der Stadt Baden, die ein Jahr zuvor von den Eidgenossen erobert wurde, findet Poggio Bracciolini das Paradies. Er habe den Eindruck, schreibt er, «Venus sei von Zypern mit allem, was es auf der Welt an Lustbarkeiten gibt, hierher zu diesen Bädern gepilgert».
Besinne dich auf das Schöne
Seine Schilderung des Seelenfriedens, des massvollen Genusses, der Heiterkeit und der Freundlichkeit, die er an der Limmat gefunden hat, ist purer Epikureismus. Eine Mahnung an seine Zeitgenossen, sich inmitten der Intoleranz des Schismas auf das Schöne und Essentielle des Lebens zu besinnen.
Angesichts des Extremismus und der Profitgier müssten sich die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts die Werte, die Poggio hochhält, erst recht hinter die Ohren schreiben.