Fast vier Jahre ist es her, seit der libysche Herrscher Gadaffi unter nicht restlos geklärten Umständen gestorben ist. Der algerische Schriftsteller Yasmina Khadra zeichnet in seinem neusten Roman «Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi» seine letzten Stunden nach. Dabei verwebt er Fakten und Fiktion und versucht so, die umstrittene Persönlichkeit des autokratischen Herrschers auszuloten.
Gaddafi war nicht nur Tyrann ...
«Mein Onkel schwor hoch und heilig, dass ich derjenige Spross aus dem Clan der Ghous sei, auf dem der Segen ruhe, derjenige, der dem Gaddafi-Stamm den verflossenen Glanz und seine epochalen, längst vergessenen Heldentaten zurückbringen würde.»
Dieser Satz aus dem Roman wirft eine Frage auf: Woher rührt das Bedürfnis des Autors, sich in den Kopf eines Tyrannen zu versetzen? Yasmina Khadra sagt, dass Gaddafi ihn heimgesucht habe, ihn den Schriftsteller: «Schreibend habe ich erkannt, dass Gaddafi nicht nur ein Tyrann war. Er wuchs in einfachsten Verhältnissen auf, Ängste suchten in heim; er hatte grosse Träume, ehrliche. Bevor er schliesslich seine Ideale aufgab und dem Grössenwahn verfiel.»
... sondern auch Idol
Der 60-jährige Khadra erzählt das mit der Distanz eines kritischen Beobachters seiner Heimat, des Maghreb. In seiner Jugend, als junger Offizier der algerischen Armee, verehrte er Gaddafi: «In den 70er-Jahren war er unser aller Idol. Er war es, der zuerst den König und dann die Amerikaner und Engländer aus Libyen vertreiben konnte.»
Gaddafi war ein Idol, weil er anfangs einer ganzen Generation im Maghreb eine gemeinsame Perspektive gab: «Emanzipation und Fortschritt – er liess uns mit seinen Idealen träumen», sagt Khadra und fügt an: «Aber unsere Regierungen konnten nichts damit anfangen, hatten keine Vision für ihre Länder und ihre Bevölkerung. Darum isolierten sie Gaddafi. In der Einsamkeit entwickelte Gadaffi schliesslich seine Agressivität und wurde zum Tyrann.»
«Gaddafi spielte nicht mit, darum haben sie ihn getötet»
«Man entblättert mich, enthäutet mich, verschlingt mich roh. Ich schlage nicht um mich, ich lasse mich in Stücke schneiden, ohne zu stöhnen oder irgendwen anzuflehen, bin stoisch und würdig, so wie der alte Löwe sich seinem Schicksal überlässt, der im Todeskampf den Hyänen ausgeliefert ist.»
In zum Teil grotesken Szenen zeichnet Khadra das Psychogramm eines Mannes, der bis zum bitteren Ende daran glaubt, den Lauf der Geschichte selbst bestimmen zu können. Zwischen den Zeilen lässt sich in diesen Passagen auch eine nuancierte Kritik an den westlichen Regierungen finden, welche jahrelang den absurden Grössenwahn Gaddafis tolerierten.
Khadra sagt: «Die europäischen Regierungen haben Gaddafi hofiert, zum Entsetzen ihrer Bevölkerung; sie rollten ihm den roten Teppich aus, weil sie Zugang zu einem gigantischen Markt suchten. Gaddafi spielte nicht mit. Darum haben sie ihn getötet, nicht weil er ein Tyrann war, sondern weil er den Kuchen nicht teilen wollte.»
Die Demokratie hat Grenzen
Der Westen habe geglaubt, es genüge, den Herrscher zu stürzen, um Libyen wieder unter Kontrolle zu bringen. Eine Fehleinschätzung, sagt Khadra. Der Westen hätte mehr Geduld und mehr Vertrauen haben sollen in die demokratischen Kräfte der ganzen Region: «Das Trauma, das die libysche Bevölkerung jetzt nach dem Sturz Gaddafis erleidet, ist grösser als jenes während seines Regimes. Ich verabscheue Tyrannen, aber es ist mir lieber, wenn das eigene Volk seine Tyrannen stürzt und nicht Ausländer sich als Retter und Helden aufspielen. Diese Rolle ist dem jeweiligen Volk vorenthalten.» Das Buch von Yasmina Khadra führt uns darum auch an die Grenzen des Begriffs Demokratie.
«Ich sehe alles, den Schweiss auf den grotesk verzerrten Gesichtern, die verdrehten Augen, das geifernde Gesabber in den Mundwinkeln, die Menge, die sich frenetisch beglückwünscht, die Schaulustigen, die mit ihrem Handy den Moment äusserster Enthemmung für alle Zeiten festhalten, aber ich höre nichts, noch nicht einmal den kosmischen Atem, der mich einsaugt.»