«Ich bin schon hier», ruft der Igel dem Hasen zu. Im Wettrennen gewinnt er immer, denn am Ziel hat er einen Doppelgänger versteckt. Dieses Bild steht für Hans Magnus Enzensberger. Für einen, der die Märchen liebt und das Gewinnen ebenso. Für den, der schwer zu fassen ist und doch immer da. Für den wichtigsten Intellektuellen der deutschen Gegenwart.
Was hast du dir dabei gedacht?
Memoiren zu schreiben hat er immer abgelehnt. Nun tut er es doch, etwas kokett, mit Elementen einer Selbstinszenierung. Enzensberger trifft Enzensberger, der alte den jungen. Es ist eine fingierte Begegnung mit sich selbst, bestimmt vom Nicht-Verstehen und der Frage: Was hast du dir dabei gedacht? Damals gedacht?
Die Antworten haben Tempo und klären wenig. Ratlos ist der Rückblick, rätselhaft die Erinnerungen an die Jahre des «Tumults». Wie war das vor fünf Jahrzehnten? Was war da los? Warum? So befragt er die Notizen einer Reise durch die UdSSR, die Amour fou mit Mascha, seiner zweiten, russischen Frau, die 1000 Tage der Studentenrevolte und die kurze, plötzliche Ruhe danach. Alles ein grosses Rauschen, in dem die Fetzen der Erinnerung auftauchen wie die Sequenzen eines Films.
Entzauberung der Macht
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Früh ist Enzensberger in der Nähe der Mächtigen und Wichtigen, logiert an ersten Adressen, wird eingeladen und ist eigentlich immer unterwegs. Den Büchner-Preis erhält er mit 33. Mit einer prominenten Autorendelegation ist er im gleichen Jahr in Leningrad und in Nikita Chruschtschows Villa am Schwarzen Meer. Ungerührt seine Notiz über den Sowjetführer: «Von seiner grössten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht. Am Tisch dieses Menschen mag man gähnen, aber man fühlt sich nicht bedroht.»
Treffend beobachtet ist das, selbstgewiss auch, wie vieles, was der Essayist Enzensberger später formulieren wird. Notizen wie diese, Dokumente, Fotos sind der Auslöser seines überraschenden Flashbacks in die eigene Vergangenheit.
Der Gast des Geschehens
Rasant ist der Blick zurück, mit Aufenthalten in den USA, auf Kuba, in Norwegen oder Rom. Begegnungen mit Prinz Sihanouk aus Kambodscha, mit Pablo Neruda, mit dem Soziologen Herbert Marcuse und Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs.
Im Zentrum steht Berlin. Die Jahre nach 1967. Er war Marxist und Herausgeber des «Kursbuchs», als die Revolte Fahrt aufnahm. Jürgen Habermas sieht ihn damals als den «zugereisten Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre». Er selbst sieht sich eher als Gast. Der Gast des Geschehens.
Enzensberger ist oft nicht da, wenn etwas passiert
Obwohl auch für Enzensberger die «Revolution auf der Tagesordnung steht», ist er oft nicht da, wenn etwas passiert. Aus der Halbdistanz steht er neben den Aktionen der anderen. Neben den Kapriolen der Kommune 1, die zeitweilig bei ihm wohnt, den Kaufhaus-Brandstiftern und Pudding-Attentätern. Ulrike Meinhof kennt er persönlich, Andreas Baader ist ihm nur der Anführer einer «Gespensterarmee» und obendrein als Person «abscheulich».
«Ich war der schlechte Genosse», sagt er jetzt. «Auch auf den berühmten Fotos von Demonstrationen und Strassenschlachten bin ich nicht zu sehen. Lieber blieb ich in der Kulisse.»
«Immer radikal, nie konsequent»
Zweideutig ist Enzensbergers Haltung damals wie heute. Schon aus Prinzip ist er nie da, wo man ihn vermutet. Positionen gibt es, um gewechselt zu werden. Nach Walter Benjamin: «Immer radikal, nie konsequent». Und scharfsinnig, das vor allem. Enzensbergers Gedichtbände «Mausoleum» und «Titanic», seine Essays zu «Mittelmass und Wahn» sind legendär. Die Titelliste bis heute lang und eindrücklich. Er hat den Irak-Krieg öffentlich befürwortet und das bereut. In radikalen Islamisten sah er die radikalen Verlierer.
Den «Verschwundenen» hat Hans Magnus Enzensberger diese Erinnerungen gewidmet. Der «Tumult» ist vorbei. Er selbst ist geblieben. Ein Spieler vor allem, ein Intellektueller, der sich und andere nicht langweilen will. Notorisch gut gelaunt, fast fröhlich, gelenkig und Kette rauchend ist er da, in einer merkwürdig gleichmässigen Entfernung zu sich und den Verhältnissen. «Der fliegende Robert» aus dem Struwwelpeter ist seine Lieblingsfigur. Der Schirm im Wind hat auch ihn hoch in die Luft getragen, aber er hat ihn nicht verweht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 11.11.2014, 06.45 Uhr