SRF Kultur: Sie haben das Buch «2084» gelesen. Worum geht es in dem Roman?
Tim Guldimann: Das Buch nimmt direkt Bezug auf George Orwells «1984», das um das Jahr 1948 unter dem Eindruck des Stalinismus hellsichtig visionär in die Zukunft blickt.
Wenn Sie diese Parallele ziehen, was sieht denn Boualem Sansal kommen in seinem Roman «2084»? Der Stalinismus ist ja vorbei.
Der Totalitarismus ist nicht vorbei. Die Idee vom glücklichen Ende der Geschichte nach 1989, Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat auf der ganzen Welt, und die Amerikaner, die denken, das machen wir jetzt auch im Mittleren Osten, das alles ist gescheitert. Heute steht das ganz radikal in Frage. Stattdessen gibt es wie bei Houellebecq diese Verunsicherung: Da kommt etwas Fremdes, der Islam, und übernimmt die Herrschaft.
Bei Sansal sehen wir den Totalitarismus von Orwell. Dazu kommt die allgemeine Verunsicherung und ein Gefühl von Kontrollverlust in Europa. Es gibt nicht mehr Rechts und Links, sondern Unten oder Oben – was man gerade in Grossbritannien gesehen hat. Der Bezug zum Islam ergibt die Mischung, aus der heraus ein solches Buch entsteht.
Wie liest sich das Buch?
Es steht in der Tradition der französischen Intellektuellen. Mit dem Vorteil, dass es in einer klaren Sprache geschrieben ist. Wenn die politischen Philosophen in Frankreich etwas zum Besten geben, dann klingt es gut, alles sehr gescheit. Doch man versteht nicht genau, was sie meinen und der Schwindel fliegt auf, wenn man es ins Deutsche übersetzen muss. Das ist in diesem Buch nicht so. Die Sprache ist bei Sansal klar. Es ist eine gute Sprache. Aber ich hatte ein Unbehagen beim Lesen.
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Ist das nicht verständlich bei diesem Thema?
Unbehagen als Kunstmittel, ja, aber eben auch Unbehagen beim Lesen. Trotzdem ergeht es mir wie bei den letzten Filmen von Woody Allen. Der Film ist zwar zu Ende, doch etwas bleibt. So wirkt auch dieses Buch nach. Was bleibt, ist der Kulturpessimismus des Autors. Es geht um eine Projektion, wie Totalitarismus auf islamischer Basis denkbar wäre. Ohne dass der Islam explizit im Roman «2084» genannt wird. Ein Modell wie bei neueren Science-Fiction-Romanen.
Das Buch will über Totalitarismus aufklären?
Ja, von diesem Ansatz wird Gebrauch gemacht, aber es gibt keine Erlösung. Was kommt, ist Frustration. Das Buch ist in dem Sinne pessimistisch. Es ist nicht lustig, das zu lesen. Ich habe ein gebrochenes Verhältnis zu diesem Roman. Das bedeutet aber nicht, dass das Buch irrelevant ist.
Halten Sie den Islam für die grosse Bedrohung unserer Zivilisation?
Überhaupt nicht. Der politisierte Islamismus ist nicht der Islam.
Sind Bewegungen wie der IS eine Bedrohung für Europa?
Ja, diese Bewegungen bringen kriminelle Gewalt in unsere Gesellschaft hinein. Natürlich ist das eine Bedrohung. Aber es ist nicht der Islam. Es sind Verbrecher, die ihre Legitimation im Koran abholen. Das sind Überzeugungstäter.
Sansal hat den Gedanken der religiösen Begründung stattlicher Macht. Das ist in diesem Sinne islamistisch. Meine Kritik daran: Der Erfolg des Buches bedient die Angst vor der islamistischen Machtübernahme gleichsam. Das ist gefährlich. Ich habe keine Angst vor der islamistischen Machtübernahme sondern vor islamistischem Terror. Aber ich habe weniger Grund davor Angst zu haben, als die Menschen in Syrien, im Irak oder sonst wo in der Region.