Ein Mann will vergessen. Die Erinnerung auslöschen. Blind werden für die Bilder, die ihn verfolgen, um Hoffnung zu finden, Schutz und Geborgenheit. Er will heraus aus dem Gefängnis seiner düsteren Erinnerung.
So beginnt Fawwaz Haddads Roman «Gottes blutiger Himmel», der von der Suche eines Vaters nach seinem verlorenen Sohn erzählt – während des Irakkriegs, im Sommer 2006. Es ist Fawwaz Haddads zehnter Roman. Günther Orth hat ihn sehr direkt und packend aus dem Arabischen übertragen. Er gehört zu den Büchern, die man lesen sollte, wenn man sich nicht mit News-Fetzen aus der arabischen Welt begnügen will.
Ein Roman wie eine Prophezeiung
Eine Geschichte voller unbekannter Details, wirklichkeitsnah, einfühlsam und grausam zugleich. Die Innenansicht eines brutalen Konflikts – erzählt aus arabischer Sicht.
Fawwaz Haddad ist einer der bedeutendsten syrischen Schriftsteller. Als die USA unter George W. Bush den Krieg gegen den Irak unter Vorspiegelung falscher Tatsachen begannen, war für ihn klar, dass dieser Angriff einen Wendepunkt darstellte. Der Beginn einer neuen Ära. Er begann zu schreiben, über ein Land, das sich im Krieg verändert, verstümmelt, zerstört: «Gottes blutiger Himmel», ein Roman wie eine Prophezeiung.
Ein bedächtiger, genauer Zeitzeuge
Als wir Fawwaz Haddad treffen, bin ich gespalten. Ich will von ihm, der bis vor wenigen Monaten noch in Damaskus lebte, wissen, was dort geschieht – und ihn gleichzeitig zu seinem neuen Roman befragen. Doch zuerst erzählt er von seiner Heimat. Mit Bedacht, mit Genauigkeit, und manchmal voller Zorn: Wenn es um die Rolle des Westens geht, der durch sein Zögern, sein Abwarten zur Eskalation des Krieges beiträgt und so die radikalen islamistischen Kräfte der Opposition stärkt.
Er erzählt vom täglichen Leben in Damaskus, von der Militarisierung einer Stadt voller Kontrollpunkte. Ein normales Leben sei unmöglich geworden. Jederzeit könne man verhaftet werden. Oder von Assads Soldaten gedemütigt. Oder von einem Scharfschützen erschossen.
«Der blutige Wahnsinn des Tötens verfolgt mich bis in den Schlaf. Es sind Albträume bei Tag und Albträume bei Nacht», so beschreibt er diesen Alltag, der ihn weder schreiben noch leben liess.
«Gottes blutiger Himmel»: Der eigene Sohn ein Gotteskrieger
Und weil sich das Schicksal des Irak in Syrien zu wiederholen droht, reist Fawwaz Haddad und liest aus seinem neuen Roman. Sein Held ist ein Linksintellektueller aus Damaskus, Atheist und desillusioniert, was seine politischen Ideen von der Veränderbarkeit der Welt anbelangt. Doch nicht dieses Hadern mit ideologischen Mustern der Vergangenheit schleudert ihn in eine existentielle Krise. Es ist der eigene Sohn, der – so erfährt er aus syrischen Geheimdienstquellen – im Irak als Gotteskrieger für al-Qaida kämpft.
Ein unerträglicher Gedanke, ein Stich mitten ins Herz. Für den Vater gerät die Welt aus den Fugen: Wie konnte das geschehen? Hat er ihn so sehr vernachlässigt, dass er nichts von der Radikalisierung seines Sohnes gemerkt hat?
Fawwaz Haddad schickt seine Hauptfigur auf eine gefährliche Reise – er will seinen Sohn im Irak suchen, ihn überzeugen, al-Qaida abzuschwören und mit ihm nach Damaskus zurückzukehren.
Vater und Sohn begegnen sich – ohne Wirkung
Mit Hilfe eines Ermittlers der US-Army gelingt es ihm nach Bagdad zu reisen. Er beginnt zu suchen, in einer Stadt, in einem Land, das im Kleinkrieg rivalisierender Milizen zerfällt. Da sind Widerstandsgruppen gegen die US-Besatzer, die alten Kader von Saddam Husseins Baath-Partei, religiöse Extremisten, Söldner im Dienst der US-Army, die im Verbund mit christlichen Fundamentalisten ihren eigenen Privat-Krieg gegen den Islam führen. Der Vater irrt durch ein blutgetränktes Land, sucht überall – in Krankenhäusern und Leichenhallen – nach einer Spur von seinem Sohn.
Und er findet ihn: Der Showdown, die Begegnung zwischen Vater und Sohn, die sich lieben und sich dennoch nie mehr verstehen werden. Es ist der emotionale Höhepunkt des Romans. Der Sohn, der Selbstmordattentäter kommandiert, und der Vater, der das Leben verteidigt, liefern sich ein Duell der Worte, die ohne Wirkung verhallen.
Fawwaz Haddad gelingt es, dieses Land im Krieg aus unterschiedlichsten Perspektiven zu schildern. Keine irrationale Hölle eines kriegerisch religiösen Irrsinns wird da gezeichnet, sondern unterschiedliche Akteure. Alle verfangen im Netz der gleichen Tragödie. Und jeder Figur, sei sie noch so grausam, zollt Fawwaz Haddad Respekt. Nur so wird der Wahnsinn erklärbar – und erzählbar.
Syrien - Irak: Jahrelange Recherche
Die Eindringlichkeit mancher Szenen ist kaum zu schildern. Es ist eine Welt voller Brutalität, ein Krieg, in dem sich alle Seiten kontinuierlich steigern - im Verstümmeln von Menschen, Schicksalen, Häusern, Städten und ganzen Landstrichen. Fawwaz Haddad erzählt von innen, hat jahrelang recherchiert, um die Grundlage seines Romans zu schaffen.
«Ein Land ohne Verstand, Gerechtigkeit und Gnade» nennt Fawwaz Haddads Hauptfigur den Irak am Ende seiner Reise. «Ein Land voller Schmerz, belagert und hungrig.» Das trifft auch für Syriens Gegenwart zu. «Gottes blutiger Himmel» ist ein Roman über die Vergangenheit – und gleichzeitig über die Gegenwart.
Und als das Gespräch mit Fawwaz Haddad wieder zwischen seinem Roman und der politischen Situation in Syrien hin und her pendelt, meint er nur: «In der momentanen Situation ist Literatur von Politik kaum trennbar. Nur von Literatur zu sprechen, wäre Verrat an dem, was in Syrien geschieht. Und nur über Politik zu sprechen, wäre Verrat an der Literatur. Man muss über beides sprechen.»