Eigentlich war Frankreich als Gastland für die Frankfurter Buchmesse 2017 vorgesehen, aber schon unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy wurde beschlossen, diese Einladung auf die ganze frankofone Welt auszudehnen.
Nicht die französische, sondern die französischsprachige Literatur sollte ins mediale Schaufenster gestellt werden.
Symbol für offenen Dialog
In der heutigen Zeit mache es wenig Sinn, nach einer französischen Identität im Spiegel einer nationalen Literatur zu suchen, betont Paul de Sinéty, Chefverantwortlicher des frankofonen Messeauftritts. «Solche Begrenzungen sind gefährlich vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts und der grässlichen Folgen, die ein solches Denken verursacht hat.»
Die Einladung solle als Symbol für einen offenen Dialog verstanden werden, nicht nur in Europa, sondern weltweit. Als Gegenentwurf zu den Ideologien der Populisten, «die stets nur auf Abschirmung beharren».
Erinnerung an Unterdrückung
Diese Willkommensgeste der «Grande Nation» wurde von der Mehrheit der frankofonen Autorinnen und Autoren begrüsst. Trotzdem verhehlen viele nicht, dass sie ein zwiespältiges Verhältnis zum Französischen haben.
Patrick Chamoiseau aus Martinique etwa, eine der wichtigsten literarischen Stimmen im karibischen Raum, bringt die Ambivalenz ungeschminkt auf den Punkt: «Es ist die Sprache der Unterdrückung und der Sklaverei. Die Erinnerung an diese dunkle Vergangenheit lässt sich nie ganz ausblenden.»
So habe er auch in seinen früheren Werken gezielt, kreolische Wörter eingeschmuggelt, um seine Wurzeln deutlich zu machen.
Der erlauchte Zirkel
Sein Schriftstellerkollege Dany Laferrière aus Haiti hat mit der französischen Sprache keine Berührungsängste. «Ich bin ein freier Mensch und niemand zwingt mich, auf Französisch zu schreiben», sagt Laferrière.
Der 64-jährige Schriftsteller hat eine typisch frankofone Biografie: aufgewachsen in Haiti und als junger Journalist nach Montréal emigriert, weil er als Oppositioneller vom Duvalier-Regime bedroht wurde.
Heute pendelt er zwischen Kanada und Frankreich und hat es sogar geschafft, in den erlauchten Zirkel der «Académy Française» gewählt zu werden.
Dort beschäftigt er sich mit dem Gewissen der französischen Sprache, in der Redaktion des «Dictionnaires», der Verwaltung des gültigen französischsprachigen Wortschatzes.
Ein Schock in Quebec
Bereits mit seinem ersten Roman «Die Kunst einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden» war Laferrière der literarische Durchbruch gelungen.
Der stark autobiografische Roman erschien 1985 und löste im puritanischen Quebec einen Schock aus. Unverblümt werden da die sexuellen Erfahrungen von zwei schwarzen Immigranten aus Haiti geschildert, die in einer schäbigen Unterkunft in Montreal weisse Studentinnen empfangen.
Animalisch, primitiv, barbarisch
Doch hinter der frivolen und witzigen Geschichte steckt ein ernsthaftes Thema. Laferière setzt sich mit den rassistischen Bildern in unseren Köpfen auseinander und seziert gnadenlos die unterschiedlichen Vorurteile.
An einer Stelle lässt er seinen Protagonisten sagen: «Ich möchte sehr gerne wissen, ob dieser Mythos vom animalischen, primitiven, barbarischen Schwarzen, der nur ans Vögeln denkt, wahr oder falsch ist.»
Der Roman wurde jetzt wieder auf Deutsch aufgelegt, und man staunt, wie aktuell dieser Diskurs über Klischees geblieben ist – auch mehr als dreissig Jahre nach der Niederschrift.
Frankreich – die Rettung
Für Autorin Négar Djavadi bedeutet die französische Sprache das Symbol einer offenen, demokratischen Gesellschaft, in denen Frauen sich genauso im Leben bewegen können wie die Männer.
Sie wuchs als Tochter von Intellektuellen in Teheran auf, besuchte dort die französische Schule und geriet dann in die Wirren der islamischen Revolution.
Ihr Vater, der als Journalist bereits gegen das Schah-Regime opponierte, wurde nach Khomeinis Machtübernahme zum Tode verurteilt. Er flüchtete nach Frankreich, seine Frau und die beiden Töchtern folgten ihm kurze Zeit später.
Iranische Familiensaga
Diese Erfahrungen im Iran und der Neustart als junges Mädchen in Frankreich hat Djavadi jetzt in ihrem ersten Roman «Désorientale» verarbeitet.
Es ist eine opulente und dramatische Familiensaga, die den Grossteil des 20. Jahrhunderts abdeckt – bis zur historischen Wende 1979. Sie macht deutlich, wie ein aufgeschlossenes Land plötzlich ins tiefste Mittelalter zurückfallen kann.
Zwischen den Kulturen
Die leise Melancholie einer Identität zwischen den Kulturen spiegelt sich im Titel des Romans «Désorientale». «Was ist man, wenn man als Orientalin nicht im Orient lebt?», fragt sie lachend.
Längst ist Djavadi aber in Frankreich angekommen. Sie besitzt einen französischen Pass, arbeitet als Drehbuchautorin und Filmemacherin und hat sich mittlerweile, wie sie selber sagt, «ohne den Iran konstruiert.»
So gesehen ist auch sie eine typische Vertreterin der Frankofonie. Mit dem Französischen verbinde sie den Anfang einer neuen Existenz. «Es hat mir das Leben gerettet», sagt sie.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 09.10.2017, 09.00 Uhr.