Geliebt und verehrt von Millionen Lesender auf der ganzen Welt, wurde Albert Camus in Frankreich – mitten im Kalten Krieg und der Epoche der Entkolonialisierung – gerade im Pariser intellektuellen und künstlerischen Milieu häufig mit Häme, ja offenem Hass überzogen. Das geschah wohl aus politischer Borniertheit und auch aus Neid auf den, bei Frauen ebenso wie als Journalist und Autor, erfolgreichen Aussenseiter aus dem Armenviertel Belcourt in Algier.
Sätze, die packen und treffen
Mit einem Doppelschlag hatte Camus 1942, im von den Nazis besetzten Paris, die literarische Bühne erobert: mit dem Essay «Der Mythos des Sisyphos» und der ebenfalls 1942 publizierten, genialen literarischen Gestaltung der gleichen Fragestellung im Roman «L’Etranger- Der Fremde».
«Es gibt nur ein ernsthaftes philosophisches Problem: Der Selbstmord. Zu entscheiden, ob das Leben sich lohnt oder nicht lohnt, gelebt zu werden, das heisst, die Grundfrage der Philosophie zu beantworten.»
Diese ersten Sätze des Essays treffen fraglos auch Lesende von heute ins Herz. Und genauso frisch wirkt die kühne Romanfassung des Nachdenkens über das Absurde, über Indifferenz und Fremdheit gegenüber der eigenen Existenz – man lese allein die packenden ersten und letzten Seiten des «Etranger»!
Camus erschuf neue Denkfiguren
Camus akzeptiert die Absurdität, er versteht darunter das Missverhältnis des zufälligen, stets begrenzten Dasein des Einzelnen und die ewige Gleichgültigkeit der Welt. Und kommt so zum provokativen Schluss, man müsse sich Sisyphos, der unter Qualen in der Unterwelt einen Felsbrocken auf einen Berg stemmen muss, der stets gleich wieder herunterrollt, als «glücklich» vorstellen. Diese Denkfigur wird auch das 21. Jahrhundert überleben.
Doch Albert Camus hat weit mehr geschrieben. Der in tiefer Armut in Algier praktisch vaterlos - Lucien Camus gehörte zu den ersten Opfern des 1. Weltkriegs – mit einer so geliebten wie kargen analphabetischen Mutter gross gewordene Albert, verdankt dem Bildungssystem der französischen Republik und seinen Lehrern Louis Germain und Jean Grenier, den Aufstieg zu einer der wichtigsten Stimmen im literarischen und politischen Konzert Frankreichs zwischen 1942 und 1960.
Aktiver Widerstandskämpfer und Chefredakteur, der aus der Résistance erwachsenen Zeitung ‚Combat‘, setzt er politisch-moralische Massstäbe im Nachkriegsfrankreich und schreibt mit «Die Pest» (1947) einen aktuellen Romanbestseller.
Camus' Haltung: kompromisslos und mutig
Dann positioniert sich der Autor, der, wie er schreibt, der «Linken angehört, trotz ihr und trotz mir», im Essay «Der Mensch in der Revolte» (1951) zwischen allen Stühlen: Er sieht die Revolte als fundamentale, menschliche Haltung. Er spricht sich gegen die Verabsolutierung der Geschichte und für die unveräusserlichen Freiheitsrechte des Einzelnen aus. Damit stellt er sich gegen die Machtansprüche einer Partei oder Klasse, und damit namentlich gegen Stalins Sowjetunion und ihr Gulag-System. Das führt zum Bruch mit der französischen Linken und den stur stalinistischen Kommunisten.
60 Jahre später gibt die Geschichte Camus Recht. Und es ist schwer zu verstehen, warum die Gegner zur Rechten und zur Linken – darunter auch der einstige Freund und Rivale Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir – mit solcher Infamie auf den Autor eingedroschen haben. Seine differenzierte und mutige Sicht beeindruckt bis heute. Das gilt auch für Camus‘ kompromisslose Plädoyers gegen die Todesstrafe und für die1956-er Revolutionäre in Ungarn.
Camus, der «Womanizer»
Albert Camus, das wird oft ausgeblendet, hat sein enormes, auch quantitativ reiches Werk, das Theaterstücke, Romane, Essays und unzählige journalistische Interventionen umfasst, einer stets stark gefährdeten Gesundheit abgerungen. Keine zwanzig Jahre alt an Tuberkulose erkrankt, begleitet ihn diese heimtückische Krankheit lebenslang mit Fieber- und Schwächephasen, Panikattacken und Erstickungsanfällen.
Er wehrt sich dagegen mit einem fast unersättlichen Lebenshunger, den er in der Natur, im vielfach besungenen mediterranen Licht und in der Sinnlichkeit der Liebesbegegnung stillt. Das beschert dem unermüdlichen Don Juan und Vater von Zwillingen ein kompliziertes Privatleben mit zeitweise mehreren Geliebten neben der geschwisterlichen Beziehung zur fragilen Gattin Francine.
Einsam und gemeinschaftlich zugleich
Dem öffentlichen Bild des strahlenden, auch beneideten Stars kontrastiert die Selbstwahrnehmung: Als ihm 1957 der Literaturnobelpreis zugesprochen wird, erschrickt er beinahe, registriert in seinen «Carnets» ein «eigenartiges Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Wehmut.» Camus führt kein eigentliches Tagebuch, nur Notizbücher, denn für ihn soll «das Leben geheim» sein: «Ich darf es nicht in Worten kundtun. Heimlich und ohne Formulierung ist es für mich am reichsten».
Sein Selbstverständnis hat der zu leuchtender Prosa und prägnanter Verdichtung komplexer Sachverhalte begabte Autor präzis in zwei Worten definiert: «Solitaire et solidaire», solidarisch-gemeinschaftlich und einzelgängerisch-einsam zugleich. Und auf zehn Worte verkürzt liest sich als Selbstporträt, was Camus 1951 als «Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Wörtern» skizziert: «Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer».
Ein Meister, den man einfach lesen muss
In den drei Monaten vor seinem Unfalltod hat Camus im erst kurz zuvor erworbenen Haus in Lourmarin in der Provence, wo er Klima und Licht seiner algerischen Kindheit wiederfindet, jenen Buchanfang geschrieben, der, erst 1994 veröffentlicht, zu seinem brillanten Vermächtnis geworden ist. Das Romanfragment «Der erste Mensch», zeigt einen Künstler, der aus der Erinnerung und aus einem immensen Schaffensdrang die meisterliche Skulptur einer Kindheit gestaltet, welche die Signatur des Jahrhunderts mit der individuellen Formung grandios verbindet.
Statt abgestandenen Querelen im Pariser Haifischbecken nachzuspüren, lohnt sich für uns Heutige Camus‘ literarisch so überzeugende, wie unmittelbar berührende Texte, zu lesen.