Bei seinem Erscheinen im Herbst wurde der neue Roman der 47-jährigen Berlinerin («Aller Tage Abend», «Die Heimsuchung») zu Recht als «Buch zur Stunde» gerühmt.
Freilich strickt Literatur nicht mit so heisser Nadel – die Arbeit am Roman, der auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2015 stand, hat Autorin Jenny Erpenbeck schon vor rund drei Jahren begonnen, ohne zu wissen, dass ihm bei der Publikation aktualitätsbedingt soviel Aufmerksamkeit zuteil würde.
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Professor trifft auf Flüchtlinge
Richard, ein eben pensionierter Professor für Alte Sprachen aus dem Osten Berlins, verwitwet und von der Geliebten verlassen, stösst zufällig auf eine Demonstration schwarzafrikanischer Flüchtlinge aus einer Zeltstadt mitten in Berlin, die – zum Warten und Nichtstun gezwungen – «sichtbar werden» wollen in ihrer unhaltbaren Lage.
In seinem noch ungewohnten Überfluss an Zeit beginnt Richard sich für diese Schicksale zu interessieren, denn «über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr herausgefallen sind». Riachard beginnt – nach gründlichen Recherchen – eine Reihe der jungen Männer nach ihrer oft dramatischen und traumatisierenden Geschichte zu befragen.
Flucht – das allgegenwärtige Thema
Diese Menschen sind meist vor Bürgerkriegen aus Nigeria, Niger oder Ghana geflohen oder aus Libyen, wo ihre Väter gearbeitet hatten, dann vertrieben oder ermordet wurden. Die Flüchtlinge konfrontieren den Protagonisten zum einen mit kaum gekannter Not ausserhalb seines bisherigen Lebens, aber auch mit seinen eigenen Erfahrungen von Fremdsein und Flucht im vorherigen Jahrhundert, im Zweiten Weltkrieg oder bei der Einverleibung der DDR in die BRD.
Jenny Erpenbeck richtet den Fokus nie allein auf die Flüchtlinge, sondern ebenso auf die Deutschen, auf Richards Freunde, deren Reaktionen und den politischen Kontext. Aus bald vorsichtigen, bald anrührenden und empathischen Begegnungen erwächst dann konkrete Hilfeleistung, Deutschunterricht oder Klavierspiel, der abenteuerliche, fast magische Kauf eines Grundstücks in Ghana, die Begleitung zu Amtsstellen oder einem engagierten Anwalt, der daran erinnert, dass «die Germanen vor 2000 Jahren das gastfreundlichste Volk, das es gab» waren.
Ermutigende, aber ungeschönte Utopie
Als nach vielfachem Herumgeschoben und Umplatziertwerden vielen der Afrikaner ein staatlicher Heimplatz verweigert wird, schaffen Richard und seine Freunde in ihren Häusern Platz – private Initiativen, wie es sie in Realität auch gibt, wenngleich diese ermutigende sanfte Utopie auch von der Autorin nicht als Dauerlösung gesehen wird und nichts beschönigt wird.
Wie alle Bücher Jenny Erpenbecks, die von existentiellen und essentiellen Fragen, von individuellem Leid und kollektiver Gewalt handeln, ist auch dieser Roman in einer glasklaren, knappen Sprache verfasst, welche ihre Funktion und Wirkung immer mitreflektiert.
Staunenswert, wie die Autorin etwa das titelgebende Wortfeld vom Gehen in hundert Nuancen und dabei direkt bezogen auf das tägliche Leben der Flüchtlinge und der Deutschen ausschreitet.
Dabei dominiert bei Erpenbeck stets eine Haltung des nachdenklichen Fragens, die keine vorschnellen Antworten erlaubt. Den Fragen, wie sie das facettenreiche, faktenstarke und poetisch eindringliche Panorama der Flüchtlingsthematik in «Gehen, ging, gegangen» präsentiert, kann sich kein Leser so leicht entziehen.