Eine Woche lang leuchten sie am Himmel, die mysteriösen Lichter ausserirdischer Herkunft: Die Menschen bestaunen sie, ohne sie zu verstehen, dann verschwinden die Signale ebenso unvermittelt, wie sie erschienen sind – und das Leben geht weiter wie bisher, zumindest scheinbar.
«Die Übertragung» von Manuele Fior spielt sich im Jahr 2048 ab. Sternenkrieger und Aliens sucht man in seiner Zukunftsvision indes vergebens: «Meine Absicht war es», sagt er im Gespräch, «die heutige Realität aus einer anderen Perspektive zu betrachten.»
Aufbruchstimmung und Lebenskrise
2048 herrscht in Italien Aufbruchstimmung: Die Jugend besetzt und renoviert die verlassenen Innenstädte und feiert die freie Liebe. Teil dieser Jugendbewegung ist Dora, Anfang 20, die von sich behauptet, sie habe telepathische Fähigkeiten und stünde mit den Ausserirdischen in Kontakt.
Ganz anders sieht das Leben des etwa 50-jährigen Psychiaters Raniero aus: Er steckt in einer Lebenskrise. Als das kosmische Licht aufflammt, sitzt er im Auto. Geblendet kommt er von der Strasse ab, und dieser Unfall vertieft seine existenzielle Verunsicherung. Wenig später verlässt ihn seine Frau. Zur selben Zeit wird Dora im Spital eingeliefert – Raniero kann seiner Patientin nicht widerstehen.
Komplexe und lebensnahe Figuren
Trotz der intergalaktischen Kontaktaufnahme, betont Fior, liege sein Fokus auch in «Die Übertragung» auf dem Kleinen, Intimen, Alltäglichen. Das Spiel mit den Proportionen habe ihn gereizt, sagt er. «Die Natur des Menschen ist klein, und auch angesichts eines gigantischen Ereignisses wie der Kontaktaufnahme durch eine ausserirdische Intelligenz kann er nicht über sich hinauswachsen und bleibt in seiner Beschränktheit gefangen.»
Die Plausibilität ist nicht zuletzt auch in den Figuren angelegt: Raniero und Dora sind weder besonders schön noch besonders intelligent, erfolgreich oder sympathisch, dafür sie sind komplex und lebensnah. «Ich will Figuren schaffen», sagt Fior, «über die der Leser kein abschliessendes Urteil abgeben kann.»
Auch über ihre Beziehung ist ein abschliessendes Urteil nicht einfach: Sie ist intensiv, berührend, voller Spannungen und ohne Zukunft – zu tief ist in dieser sich rasant verändernden Gesellschaft der Graben zwischen den Generationen.
Ebenso plausibel und unspektakulär ist Fiors Bild der Zukunft: «Die Zukunft wird nicht viel anders sein als die Gegenwart», glaubt er. «Es wird Entwicklungen und Rückschritte geben, Dinge, die funktionieren und anderes, das nicht funktioniert. Ich glaube nicht an die grosse Katastrophe, die viele Filme beschwören.»
Verwaschene Grautöne statt Aquarellfarben
Die Verunsicherung seiner Figuren bringt Fior auch grafisch zum Ausdruck, in seinen schwarz-weissen Zeichnungen. Es ist ein sattes, geradezu hypnotisches Schwarz-Weiss mit vielen verwaschenen Grautönen, das die rätselhafte Grundstimmung der Ereignisse vertieft und die Verlorenheit der Figuren sichtbar macht.
Damit unterscheidet sich «Die Übertragung» deutlich von seinem Vorgänger «5000 Kilometer in der Sekunde»: In dieser Dreiecksgeschichte, die am Comic-Festival von Angoulême als bester Comic des Jahres ausgezeichnet wurde, erwies sich Fior als Meister subtiler Aquarellfarben. Ob er mit seinem neuen Schwarz-Weiss-Comic Erwartungen enttäusche, sei ihm egal, versichert er lachend. «Ich versuche, mein Vergnügen mit jedem Buch zu erneuern. Sobald ich eine Technik mehr oder weniger beherrsche, interessiert es mich nicht, endlos weiter damit zu arbeiten.»
Unbehaglich und faszinierend
Geschickt und auf immer wieder unerwartete Weise verknüpft Manuele Fior die verschiedenen Ebenen seiner Geschichte, die ausserirdische Kontaktaufnahme, die kritische Gesellschaftsvision und die Liebesgeschichte. Vieles deutet er nur an, manches lässt er ungesagt, mehrmals führt er uns in die Irre – und über die Wirkung der extraterrestrischen Erscheinungen klärt er uns erst ganz am Schluss auf. Das macht aus «Die Übertragung» einen auf viele Seiten hin offenen, phasenweise unbehaglichen, immer aber faszinierenden Comic-Roman.