SRF Kultur: Peri, die Hauptfigur in Ihrem neuen Buch «Der Geruch des Paradieses» steht seit Kindesbeinen zwischen den Fronten. Da ist zunächst die religiöse Mutter und der säkulare Vater, später ihre Freundinnen, die praktizierende Muslimin Mona und die atheistische Shirin – Peri ist verwirrt. Repräsentiert sie die junge Türkin von heute?
Elif Shafak: Ich habe bewusst die Türkin die Rolle der Verwirrten übernehmen lassen. Meiner Meinung nach sind wir in der Türkei bezüglich unserer Identität, unserer Geschichte und Erinnerung stark verunsichert.
Umso wichtiger ist es, Fragen zu stellen, die uns davor bewahren sollten, Rückschritte zu machen: Fragen zum Islam, zum Feminismus und zur Sexualität. Mona, Peri und Shirin, die Gläubige, die Verwirrte und die Sünderin vereinen diese Themen in sich.
Ich wollte ausserdem thematisieren, dass es heutzutage insbesondere die Frauen sind, die diese Themen aufwerfen. Das ist wichtig, denn sollte sich die Türkei in die falsche Richtung bewegen, haben wir Frauen viel mehr zu verlieren, als die Männer. Ich möchte keinesfalls, dass die Türkei Rückschritte macht, doch leider scheint momentan genau das der Fall zu sein.
Auch Sie wuchsen mit zwei sehr unterschiedlichen Bezugspersonen auf: Ihrer Mutter, einer säkularen und sehr gebildeten Diplomatin, und ihrer traditionellen, der Spiritualität nahestehenden Grossmutter. Inwiefern beeinflusst Sie das bis heute?
Dadurch, dass ich nicht in einer typisch patriarchalischen türkischen Familie grossgeworden bin, habe ich eine ausgeprägte Sensibilität gegenüber den Frauenrechten und der Geschlechtergleichheit entwickelt.
Meine Mutter und meine Grossmutter waren sehr unterschiedlich, dennoch hat meine Grossmutter die Unabhängigkeit ihrer Töchter enorm gefördert. Das hat mir gezeigt, dass Frauen sich trotz Unterschieden in Herkunft, Religion und Lebensstil gegenseitig unterstützen und sich verschwestern können.
In einer Szene schreibt Peri in ihr Notizbuch, sie würde lieber von der Möglichkeit Gebrauch machen, Gott zu ändern, als die Welt oder ihre Freunde. Wie sehen Sie das?
Dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge ändern möchten, hat mich schon immer fasziniert. Während die meisten andere Menschen ändern möchten, gibt es einige Weise unter uns, die nur sich selbst ändern wollen. Und dann gibt es auch noch die Radikalen, jene Menschen also, die Gott, oder die Interpretation von Gott, ändern möchten.
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Meine Aufgabe als Geschichtenerzählerin ist es aber nicht, solche Fragen zu beantworten, sondern sie zu stellen. Auch schwierige, radikale Fragen über sexuelle Tabus, über kulturelle Tabus, über Dinge, über die man normalerweise schweigt.
Für mich sind die Fragen sogar wichtiger als die Antworten. Ich möchte, dass der Leser oder die Leserin eigene Antworten findet, die so einzigartig sind, wie das Leseerlebnis selbst.
Einzigartig ist auch unser aller Verständnis von Gott und Religion – wie sieht Ihres aus?
Ich bin weder gläubig, noch religiös. Die Art, wie viele Religionen die Menschen in Kategorien wie «wir» und «sie» einteilen, behagt mir nicht. Ich verstehe auch nicht, wie jemand von sich behaupten kann, alle Antworten gefunden zu haben. Woher nimmt man die bedingungslose Überzeugung, dass es Gott gibt, oder auch, dass es ihn nicht gibt?
Agnostiker oder Mystiker hingegen, die sich mit Demut und einer friedlichen, nach innen gerichteten Philosophie auseinandersetzen, interessieren mich sehr. Das sind jene Menschen, die nicht von sich behaupten, alle Antworten gefunden zu haben, sondern nach wie vor auf der Suche sind.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 20.11.2016, 11:00 Uhr.