Miles Roby ist ein guter Typ. Obwohl er mal grössere Ambitionen hatte und auswärts studierte, war er ans Sterbebett seiner geliebten Mutter zurückgekehrt, und blieb dann in Empire Falls hängen.
Das hatte natürlich auch mit Mrs. Whiting zu tun. Die Witwe des reichsten Mannes weit und breit machte ihm damals das Angebot, das örtliche Restaurant «Empire Diner» zu führen.
Jahrzehnte später tut er das immer noch. Nur ab und zu blitzt der Gedanke auf, dass er für seine eigene und auch für die Zufriedenheit seiner geliebten Tochter vielleicht doch etwas Grundlegendes in seinem Leben ändern müsste.
Gierige Egoisten
Dass der Held des monumentalen Gesellschaftsromans von Richard Russo eher ein Anti-Held ist, macht ihn sympathisch. Denn auch wenn sich Miles' Frau zugunsten eines sexuell potenteren Aufschneiders von ihm getrennt hat; auch wenn sein jüngerer Bruder ihm seine kompromisshafte Schwäche irgendwann schmerzhaft unter die Nase reibt: Man ist als Leserin froh, dass es ihn in Empire Falls gibt.
Man muss als Leser Miles' deprimierende Einschätzung teilen: «Die meisten Menschen, war er zum Schluss gekommen, waren egoistisch, gierig, prinzipienlos, käuflich und von einer unverbesserlichen Selbstgefälligkeit.»
Gleichzeitig muss man zugeben, dass er selbst zwar anders tickt, aber auch nicht entschlossen genug ist, die Macht der Hinterhältigen und Egozentrischen einzuschränken.
Ignorant und egozentrisch
Die Bewohner von Empire Falls haben Raubtierqualitäten: Mrs. Whiting lässt Miles am langen Arm verhungern. Miles' Vater ist ein dreister Schmarotzer der schlimmeren Sorte. Und der Ortspolizist Jimmy Minty sagt in einem Gespräch mit Miles: «Weisst du, wer Mr. Empire Falls ist? Ich. Der Letzte, der hier weggeht und das Licht ausmacht.»
Jimmys Botschaft ist eindeutig: Das Kleinstadtleben soll genauso bleiben wie es immer war. Sein Auftrag als Polizist ist nicht zuletzt, jene Intrigen zu verteidigen, die ihm und den Seinen seit Generationen Vorteile verschaffen.
Die Gefahr der Schwarz-Weiss-Geschichte
Der Hinterwäldler und Ignorant wird siegen. Diese bittere Note geistert durch Russos Roman. Die Gefahr für das Buch liegt damit auf der Hand: Leicht könnte daraus eine Schwarz-Weiss-Geschichte werden; ein Kosmos, in dem es Opfer, Täter und letztendlich ein langweiliges, weil erwartbares, Erzählgebäude gibt.
Das passiert Russo nicht. Die Qualität des Romans liegt in einer differenzierten Figurenzeichnung und im spöttischen Witz. Dieser Witz kommt immer wieder zynisch und bitter, meist aber einfach als intelligenter Sprachwitz daher.
Ein weiteres Moment der Erzählspannung ist, dass ein grosser Teil des Romangeschehens als innerer Monolog in den intimen Raum der Figuren verlegt ist.
Endlich angekommen
Zum Glück ist der 2002 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman nun endlich auch im deutschen Sprachraum angekommen. Gut übersetzt, wenn auch leider nicht unter dem fast zwingenden Originaltitel «Empire Falls», sondern dem eher unpassenden «Diese gottverdammten Träume».
Die grossen Tragödien des Lebens geschehen inmitten der sogenannten «Normalität». Sie sind im Grunde sogar deren Konsequenz. Selten wird dies so spannend erzählt wie bei Richard Russo.