SRF: Tom Kummer hätte eigentlich damit rechnen müssen, dass diese neuen Plagiate aufgedeckt werden. Kann er es einfach nicht lassen?
Philipp Theisohn: Er will es nicht lassen. Und ich bin mir auch sicher, er hat damit gerechnet, dass man ihm auch diesmal auf die Schliche kommt.
Macht er es einem denn schwer, ihm auf die Schliche zu kommen?
Nicht, wenn man seine Schreibe kennt. Stilistisch merkt man ganz schnell, ob ein Satz von Kummer ist oder nicht. Der Journalist der «Süddeutschen Zeitung» hat die Stellen ja auch schnell gefunden.
«Nina & Tom» ist ein Buch, das derb und direkt mit der Erinnerung an die Verstorbene und an das gemeinsame Leben vorgeht. Dazwischen hat es immer Passagen, bei denen man merkt: Jetzt ist die Metaphorik etwas hochgefahren. Es wird leicht kitschig. Es sind abstrakte Formulierungen, die überhaupt nicht in den Flow hineinpassen. Da ahnt man schon, dass da irgendwas ist.
Kummer benutzt das Plagiat also bewusst – vielleicht als Stilmittel. Oder steckt eine andere Absicht dahinter, wenn er in seinem neuen Roman plagiiert?
In Bezug auf diesen Text finde ich es sehr erhellend, sich zu fragen: Was haben wir für eine Erwartungshaltung? In «Nina & Tom» trauert jemand um seine verstorbene Frau.
Wir denken immer: In der Trauer sind wir unvermittelt, wir kehren unser Innerstes nach aussen. Es gibt nichts, was zwischen uns und der Erinnerung an einen verstorbenen Menschen steht.
Und Kummers Text macht gerade das Gegenteil.
Das ist das Spannende daran. Der Text zeigt mit diesen Versatzstücken auf: Selbst in der Trauer um einen geliebten Menschen, sind wir gar nicht bei uns selber. Wir haben natürlich auch Kitschvorstellungen, wir reden in Versatzstücken.
Es gibt eine Passage am Anfang, in der Kummer sagt: Wir schauen dem Sterben zu wie einer Reality-Show. Sterben wird hier wie eine Show inszeniert.
Ich finde das eine interessante Überlegung, dass wir selbst in der Trauer nicht mehr unvermittelt sind, sondern auch da immer auf Kulturversatzstücke zurückgreifen, die wir im Fernsehen gesehen. Oder in Büchern gelesen haben.
Wir erinnern uns nicht an die schlimmen Zeiten zurück – es muss schon der Sonnenuntergang oder der Sonnenaufgang sein. Und den hat Kummer natürlich gleich wieder woanders geklaut, um ihn uns vor die Füsse zu werfen.
Insofern ist das der Kern dieser Entlehnung: Dass wir in unserer Erwartungshaltung getäuscht werden.
Ein genialer literarischer Kniff also?
Genial ist ein bisschen übertrieben. Der Text ist nicht das grösste Wunderwerk der Schweizer Literatur der letzten 50 Jahre. (lacht) Es ist aber ein interessanter und berührender Text.
Die Art, wie Tom Kummer hier mit Fremdtext umgeht, ist reflektiert und führt zu Überlegungen, die für uns alle wichtig sein könnten. Kummer ist weder frech noch faul – es geht schon darum, sich zu überlegen: Wie sieht unsere Trauer aus? Was für Erwartungen haben wir an unsere Trauer? Da machen wir uns viele Illusionen. Und Kummer unterläuft die recht frech. Aber nicht unintelligent.
Das Gespräch führte Sarah Herwig.
Sendung: Kultur Kompakt, SRF 2 Kultur, 19.4.2017, 17.22 Uhr