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Literatur Skizzen eines Abstiegs: die Geschichten der Lucia Berlin

Lucia Berlin war die grosse Unbekannte der US-amerikanischen Literatur. Weitgehend erfolglos zu Lebzeiten, werden ihre meisterhaften Kurzgeschichten gerade wiederentdeckt. Damit auch ihr Leben, dass sie von der High Society an den Rand der Gesellschaft führte.

Lucia Berlin ist eine sehr schöne Frau in den Zwanzigern, als die Fotos von ihr 1963 in Albuquerque aufgenommen werden. Sie ist cool damals und als Tochter der Oberschicht schon ziemlich weit herumgekommen, als sie ihre ersten Stories schreibt. Die Fotos hat Buddy Berlin gemacht, ihr Ehemann, ein von Drogen abhängiger Jazzmusiker, mit dem sie zwei Kinder hat.

Sie wird sie allein aufziehen, genau wie zwei weitere aus insgesamt drei gescheiterten Ehen. Den Namen ihres Mannes behält sie bei. Im ersten Pass steht Lucia Brown, ihre ersten Texte zeichnet sie mit Lucia Newton, aber jetzt ist sie Lucia Berlin.

Die Story ihres Lebens

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Der Literaturclub vom 17. Mai diskutiert «Was ich sonst noch verpasst habe» von Lucia Berlin.

In jener Zeit beginnt die junge Frau an der Story ihres Lebens zu schreiben. Robust im Umgang mit den Verhältnissen, souverän im Ton und voller Empathie. Lakonisch ist ihr Sound, voll überraschender Wendungen und Humor sind ihre Geschichten.

Wie auf einer Landkarte folgen sie den Stationen dieser Biographie und zeichnen dabei die Skizzen eines kurzen Abstiegs. «Handbuch für Putzfrauen» heissen ihre Stories nun oder «Notaufnahme-Tagebuch» und «Angels Waschsalon».

Sie handeln von den Verlierern, den Randständigen der amerikanischen Gesellschaft, zu denen Lucia Berlin jetzt selbst gehört. Sie arbeitet in der Notaufnahme eines Krankenhauses, als Putzfrau, Telefonistin und Aushilfslehrerin.

Schwarzweiss-Foto: Lucia Berlin als junge Frau.
Legende: Lucia Berlin in einer Aufnahme von 1956. Paul Suttman © 2015 Literary Estate of Lucia Berlin LP

Ihr Scheitern hat Methode

«Gut und schlecht» heisst die Geschichte, die noch von Berlins Jugendjahren als Mitglied der High Society in Santiago de Chile berichtet. Und davon, wie eine junge, unpolitische höhere Tochter wie nebenbei ihre ungeliebte Lehrerin als Kommunistin denunziert. Die Reue darüber ist spürbar, noch mehr aber das präzise Psychogramm der Lehrerin, die auch an ihrem kauzigen Idealismus scheitert.

Lucia Berlins eigenes Scheitern hat Methode. Sie kommt erstaunlich gut klar mit ihrer nomadenhaften Existenz im Südwesten der USA, den schlechten Jobs und misslungenen Beziehungen. In ihren Geschichten, die auch mal Fiktion enthalten, ist sie nie ganz Heldin, aber wirklich nie Opfer. Sie macht einfach weiter, und sie schreibt davon.

Immer nah bei den Anderen und im Abstand zu sich selbst. Ihre Alkoholsucht ist ein Thema in diesen Erzählungen. «Unbeherrschbar» wie sie ist, reichen ihr fünf Seiten, um einfach und kühl zu sagen, was ist und wie es sich anfühlt. Schmerz aushalten zählt zu ihren frühen und späten Übungen, an Skoliose erkrankt muss sie als Kind ein Korsett tragen und zum Schluss ein Gerät gegen die Atemnot.

Die Essenz des Augenblicks

Buchhinweis

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Lucia Berlin: «Was ich sonst noch verpasst habe. Stories.» Arche, 2016.

Warten, wie die Zeit vergeht und, vielleicht, die Essenz des Augenblicks gewinnen, davon handeln diese Geschichten. Ihre klaren, zarten Momentaufnahmen aus den alltäglichen Zumutungen des Lebens erscheinen in den 1980er-Jahren bei kleinen, amerikanischen Verlagen und bleiben ohne Resonanz. Auch zwei Romane hat sie geschrieben, aber sie sind nicht erhalten. Einer wurde von ihr verbrannt, ein anderer in Mexiko gestohlen.

2004 ist Lucia Berlin in Marina del Rey gestorben. Jetzt wird sie mit Raymond Carver verglichen, mit Carson McCullers und Joan Didion. Jetzt ist sie entdeckt. Ihr Nachruhm hat gerade begonnen.

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