«Manchmal fühle ich mich wie ein Weihnachtsmann, wenn ich durch Tallinn gehe.» Und tatsächlich: Immer wieder wird Sofi Oksanen bei unserem Spaziergang von Passanten um ein Foto gebeten. Das hat natürlich nicht zuletzt mit ihrer Erscheinung zu tun: Mit ihren vielfarbigen Dreadlocks, dem auf Gothic Look geschminkten Gesicht und ihrem extravaganten Kleidungsstil erinnert sie eher an einen Rockstar als an eine Schriftstellerin.
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Kindheitstraum Schriftstellerin
Doch genau das wollte Sofi Oksanen werden: Schriftstellerin. Als Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters wuchs sie im finnischen Jyväskylä auf und studierte Literatur und Dramaturgie.
Als wir an einem Eckhaus vorbeikommen erzählt sie, dass hier früher der wichtigste estnische Verlag residierte und sie sich als Jugendliche vorstellte, dass ihre Bücher später einmal dort publiziert würden. Den Verlag gibt es inzwischen nicht mehr, aber Oksanen ist Schriftstellerin geworden, eine äusserst erfolgreiche sogar.
Mit Preisen überhäuft
Sofi Oksanen hat finnische und skandinavische Literaturpreise gewonnen, darunter als erste Finnin den Literaturpreis des Nordischen Rates. Ausserdem ist sie Trägerin des Marienland-Kreuzes der Republik Estland und des Ordens des Löwen von Finnland. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Oksanen konfliktreiche Themen aus der nahen Vergangenheit bearbeitet. Sowohl in ihrem Erfolgsroman «Fegefeuer (2010)», als auch im neuen Buch «Als die Tauben verschwanden (2012)» geht es um jene Zeiten, als Estland von fremden Mächten besetzt war, also um die Zeit zwischen 1939 und 1991.
«Es gibt Geschichten über Deportationen und Biografien über jene, die in den Westen flüchteten», sagt Oksanen. Doch es gäbe keine Geschichten über Kollaborateure. «Diktaturen sind aber auf Kollaborateure angewiesen. Und ich denke, es ist wichtig, dass wir diesen Kollaborateuren ein Gesicht geben, dass wir verstehen, was für Menschen das waren.» Deshalb stellt Oksanen einen Kollaborateur ins Zentrum des neuen Romans – und zwar einen doppelten Kollaborateur: Ein estnischer Mann möchte Karriere machen ungeachtet dessen, ob gerade die Deutschen oder die Sowjets das Sagen haben.
Das Estland ihrer Kindheit
Estland unter sowjetischer Besatzung, das hat Oksanen als Kind noch miterlebt. Als Angehörige einer Estin durfte sie nach aufwändiger Koordination zwar einreisen, aber nicht ihre Grosseltern besuchen: «Die lebten auf dem Land, und das Land war tabu. Man wollte den Besuchern aus dem Westen keine Kolchosebauern zeigen.»
Treffen durfte man sich nur in der Stadt, im Hotel Viru beispielsweise. 1972 erbaut, war es lange der einzige Ort, wo Ausländer übernachten durften. Das Hotel hatte vier Mal mehr Personal, als es Gäste beherbergen konnte. Jeder Gast wurde rund um die Uhr überwacht.
«Viele Hotels in der ehemaligen Sowjetunion wurden von finnischen Arbeitern gebaut. So war beispielsweise mein Vater beim Bau des Hotel Viru dabei», erzählt Sofi Oksanen. «Dass im 23. Stockwerk der Geheimdienst KGB untergebracht war, darüber durfte er natürlich nicht reden, er durfte es nicht einmal wissen.»
Das Estland von heute
Diese Zeiten scheinen der Vergangenheit anzugehören. Doch seit Russland im Frühling die ukrainische Halbinsel Krim annektierte steigt die Angst, in Estland könne dasselbe passieren. «Ich glaube nicht, dass Putin Truppen nach Estland schicken wird», vermutet Oksanen. Estland sei Teil der NATO, was zum Beispiel Finnland nicht sei. «Aber es gibt schon Grund zur Sorge, denn Russlands Politik richtet sich grundsätzlich gegen westliche Werte: Demokratie, Menschenrechte, Schutz von Minderheiten und Andersdenkenden. Und das muss uns zu denken geben.»
Und schon will der nächste Tourist ein Bild von Sofi Oksanen machen.