Er gilt als stiller Mann, der Norweger Jon Fosse. Selten gibt er Interviews. Er meidet die Öffentlichkeit und lebt in grosser Zurückgezogenheit. Dort aber erschafft er Weltliteratur.
Wie sehr er sich dabei manchmal jedoch auch seelisch verausgabt, zeigte sich vor ein paar Jahren: Bis zu einer ganzen Flasche Wodka soll Jon Fosse täglich getrunken haben, damals, 2011. Dann erlitt er einen Zusammenbruch. Danach schaffte er es, mit dem Alkohol aufzuhören.
Die grosse Kunst des Auslassens
Bei uns ist Jon Fosse vor allem als Dramatiker bekannt: «Winter», «Schönes» und «Meer» sind Werke, die auch auf Schweizer Bühnen zu sehen sind.
Typisch für Fosses Dramen sind die Auslassungen, das Nicht-Gesagte: Es ist wichtiger als das Ausgesprochene und damit Banale. Da ist Fosse ganz nahe bei Tschechow.
Zurück zu den Anfängen
Vor ein paar Jahren hat Fosse dem Drama den Rücken gekehrt. Offenbar war alles gesagt. Oder für Fosse wohl treffender: Alles Unsagbare war nicht ausgesprochen.
Fosse ist zur Prosa zurückgekehrt, der Gattung seiner literarischen Anfänge.
Weihnachtsgeschichte mit Mord
2008 ist seine Erzählung «Schlaflos» erschienen: Die Geschichte spielt im Mittelalter und dreht sich um zwei jugendliche Helden, eine junge Frau und einem jungen Mann: Alida und Asle.
In Anlehnung an die Weihnachtsgeschichte lässt Fosse die beiden durch eine Stadt in Westnorwegen irren. Sie ist hochschwanger und kann jeden Moment niederkommen.
Aber die beiden finden kein Obdach – bis sich Asle in einem Haus mit Gewalt Zutritt verschafft und die Hausbesitzerin umbringt.
Allein mit dem Leid
In seinem neuen Roman «Trilogie» erzählt Fosse die Geschichte aus «Schlaflos» nun weiter.
Asle wird als Mörder gefasst und gehängt. Alida bleibt mit dem gemeinsamen Kind alleine zurück. Sie vermag das Leid, das ihr widerfahren ist, Zeit ihres Lebens nicht zu überwinden.
Leben in einer feindlichen Welt
Die Handlung in «Trilogie» ist wenig spektakulär. Sie ist wohl am ehesten als Parabel auf die Verletzlichkeit und Nacktheit der Existenz zu lesen, auf den existenziellen Kampf ums Überleben in einer durch und durch feindlichen Welt.
Ist das Ganze auch als Anspielung auf die moderne Welt zu verstehen, in der derzeit Millionen von Flüchtlingen – oft ohne Erfolg – verzweifelt nach einer Bleibe suchen und immer wieder auf Ablehnung und Kälte treffen?
Als schwebe der Text
«Trilogie» entwickelt auf Leserinnen und Leser eine seltene Sogwirkung. Weniger aufgrund der Handlung, denn wegen der geradezu suggestiven Sprache.
Fosse arbeitet mit Wiederholungen, setzt kaum Punkte und erzeugt den Eindruck, der Text schwebe förmlich über dem Beschriebenen: traumdunkel, voll von Gefühlen, voll von Sehnsucht und Liebe, aber auch von Einsamkeit, Trauer und Melancholie.
Sprünge im Gedankenstrom
Mit grosser literarischer Kunst erzeugt Fosse auf diese Weise einen scheinbar nicht enden wollenden Gedankenstrom, einen inneren Monolog, der niemals zu versiegen scheint.
Dabei folgt der Autor scheinbar planlos Assoziationen und springt munter zwischen den Zeiten hin und her. Er wechselt die Perspektiven. Mitten in der Beschreibung der Gegenwart blitzen Erinnerungen auf.
Der Leser lässt sich treiben
Nie – und das ist das Erstaunliche – verliert man als Leser die Orientierung. Vielmehr lässt man sich gerne treiben von den symphonischen Klängen dieses sprachlichen Musikzaubers, den der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel aus dem Norwegischen ins Deutsche übertragen hat.
Fosse hat im letzten Jahr für «Trilogie» den Literaturpreis des nordischen Rates erhalten, den wichtigsten Preis für skandinavische Literatur. Das Buch, das so gar nicht ins Rampenlicht passt, beschwört kunstvoll dessen Gegenteil: die Stille.