Markus Wild, Sie sind Tierphilosoph und erforschen das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Im Roman «Der Gast im Garten» sucht nicht der Mensch die Katze aus, sondern umgekehrt. Ist das einfach gut erfunden?
Markus Wild: Das gibt es, dass sich Katzen den Ort oder die Leute selber aussuchen. Wenn man es zulässt und sie nicht verscheucht, tauchen sie gern als Gäste auf. Ich würde also sagen, die Geschichte mit der Katze im Roman ist nicht gut erfunden, sondern gut gefunden. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Frage nach unserem Verhältnis zum Tier. Normalerweise besitzen wir ja Haustiere. Wir betrachten sie als unser Eigentum. Wenn nun ein Tier freiwillig dazukommt, dann hat es plötzlich den Status eines Gastes oder eines Mitbewohners.
Tierfiguren gibt es oft in der Literatur. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich glaube, Tiere eignen sich als Projektionsfläche für fremdes Erleben. Das reizvolle an Tierfiguren in der Literatur ist die ungewohnte Perspektive. Diese andere, überraschende Sicht auf die Welt findet man oft. Nehmen sie «Anna Karenina» von Tolstoi. Da gibt es den Hund Laska. Er denkt darüber nach, warum Menschen ihre nächste Umgebung vergessen und über weit entfernte Gegenstände nachdenken. Der Hund ist die Figur, die zum Ausdruck bringt, dass unmittelbares Erleben auch wichtig ist.
Sie sind Professor für Philosophie an der Universität Basel und ihr Forschungsschwerpunkt ist Tierphilosophie. Was ist das?
Die Tierphilosophie sucht – ähnlich wie die Literatur – eine andere Perspektive und beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Eine alte philosophische Frage, die noch immer im Zentrum der Forschung steht. Welche sozialen und kognitiven Fähigkeiten haben Tiere? Haben sie ein Selbstbewusstsein, haben sie Emotionen und verstehen sie soziale Zusammenhänge? Was ist eigentlich ein Tier, was unterscheidet es von Pflanzen, Bakterien und Pilzen? Und schliesslich die Tierethik: Was dürfen wir aus moralischer und ethischer Sicht mit Tieren tun, was nicht?
Der Hauptunterschied zwischen Mensch und Tier – stellen wir uns vor – ist das Denken. Wir gehen davon aus, dass Tiere nicht denken können.
Das stimmt, doch was heisst denken? Denken kann ja verschiedene Bedeutungen haben. Ich glaube sehr wohl, dass Tiere Gedanken haben. Das zeigt auch die Forschung. Wir wissen, dass Tiere lernfähig sind. Ein Vogel kann sich zum Beispiel erinnern, wann und wo er welches Futter versteckt hat. Das nennt man in der Forschung «episodisches Gedächtnis». Der Vogel denkt in etwa: «Aha, die Nüsse habe ich vor kurzem da links versteckt, die sind noch gut, also grab ich die aus». Eine zweite Bedeutung des Denkens meint eher den Prozess, also nachdenken, entscheiden und Schlüsse ziehen. Es gibt Hinweise, dass Tiere das können.
Was ist Ihr Anliegen im Umgang mit Tieren?
Mein Anliegen kommt sehr schön im Roman von Takashi Hiraide zum Ausdruck, nämlich die Fähigkeit, Tiere in ihrer Eigenart wahrzunehmen. Die Katze tritt auf, kommt wann und wie sie will, hat also eine Eigenständigkeit. Sie definiert die Beziehung. Der Mensch beobachtet und nimmt entgegen, was die Katze gibt. So sollte es sein. Genaue und liebevolle Beobachtung. Besonders wichtig ist mir aber, dass wir unser Verhalten gegenüber Tieren überdenken. Ist alles, was wir mit Tieren tun, legitim? Sollten wir nicht von einigen Praktiken Abstand nehmen?
Meinen Sie damit, keine Tiere töten und keine Tiere essen?
Ja. Ich finde, empfindungsfähige Tiere sollten Grundrechte haben. Dazu gehört die körperliche Integrität. Tiere, die empfinden können, sollten ein Recht auf Leben und auf Freiheit haben. In der Konsequenz heisst das: keine Tiere essen, keine Tiere im Zoo ausstellen und keine Tiere für den Zirkus dressieren.
Sie haben selber Haustiere oder besser gesagt tierische Mitbewohner, drei Katzen und einen Hund, Titus. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Tieren?
Es ist ein sehr personalisiertes Verhältnis. Die vier Tiere, mit denen ich zusammenlebe, sind sehr individuell. Mit einer Katze habe ich eine sehr nahe Beziehung, weil sie von Hand aufgezogen ist. Beim Hund ist es wichtig, dass er sich anständig benimmt und sozial verträglich ist. Im Moment liegt er gerade in meinem Büro und schläft. Häufig ist er auch in den Vorlesungen und Seminaren dabei.
Langweilt sich der Hund nicht, wenn Sie vorne dozieren?
Nein, er benutzt das als Ruhepause. Er reagiert aber sehr stark, wenn ich vom Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche wechsle. Dann weiss er, jetzt ist nicht Titus-Zeit, jetzt ist Uni-Zeit. Doch sobald ich wieder in die Mundart wechsle, guckt er, was los ist und erwartet, dass wir spazieren gehen.