Bis vor Kurzem war das literarische Bild von Brasilien im deutschsprachigen Raum noch geprägt von einem einzigen Namen: Jorge Amado. Fast alles von ihm ist ins Deutsche übersetzt. Überhaupt ist er bis heute der weltweit am meisten übersetzte brasilianische Autor.
Er bediente Sehnsüchte vom Klassenkampf bis zur üppigen Exotik, die ihn über ideologische und ästhetische Grenzen hinaus mehrheitsfähig machten. Gerade erst sind wieder zwei Bücher von ihm neu übersetzt worden: «Werkstatt der Wunder» und «Der Tod und der Tod des Quincas Wasserschrei».
Neue Realitäten brauchen neue Darstellungsformen
Die meisten der in diesem Jahr auf Deutsch erscheinenden brasilianischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben mit dieser seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts prägenden Ästhetik allerdings nicht mehr viel am Hut.
Selbst der sozial engagierteste Schriftsteller der neuen Generation, Luiz Ruffato, bedient sich in seinem schon jetzt als Klassiker gehandelten Werk «Es waren viele Pferde» einer Ästhetik, von der er sagt, dass neue Realitäten auch neue Arten der Darstellung verlangen.
Zwischen Mega-Cities und einsamen Inseln
Ruffatos Werk ist fragmentiert, eine Montage aus Stimmen, Gedanken, Zeitungsausschnitten, Fundstücken der Alltagskultur. Es sind Annäherungen an das Phänomen der Mega-City, das in dieser Dimension in Europa unbekannt ist.
Doch nicht jedes Buch aus Brasilien will über Brasilien erzählen. Im Gegenteil: Nicht wenige junge Literaten weisen diesen Anspruch geradezu weit von sich. «Landschaft mit Dromedar» von Carola Saavedra etwa erzählt in dem ungewöhnlichen Format einer Reihe von Tonbandaufnahmen von einer zerfallenen Dreiecksbeziehung, Schauplatz ist eine nicht näher benannte Insel.
João Paulo Cuenca siedelt «Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall» in einem futuristischen, imaginären Tokio an. Und dies sind nur die augenfälligsten Beispiele einer neuen Literatur, die sich mit einer neuen Selbstverständlichkeit von Brasilien als Sujet löst.
Unerschöpflicher Autoren- und Erzählfundus
Doch ebenso selbstverständlich bedient sich die neue Literatur Brasiliens auch im Land selbst. Paulo Scott etwa thematisiert in «Unwirkliche Bewohner» das Drama der letzten verbliebenen Ureinwohnern Brasiliens.
Andréa del Fuego schöpft in «Geschwister des Wassers» aus dem erzählerischen Fundus ihrer Grossmutter aus dem ländlichen Landesinneren, kokettiert gar mit dem magischen Realismus, welcher der Literatur aus Lateinamerika weiterhin gern als gemeinsames Merkmal angedichtet wird. Auch dies ist eine Form der Emanzipation von alten Mustern.
Die Liste könnte beliebig erweitert werden. An die 60 neue Namen der brasilianischen Literatur kommen in diesem Jahr erstmals auf Deutsch heraus, zählt man die in fast 20 Anthologien aufgeführten Autorinnen und Autoren hinzu, dürften es mehr als 100 sein.
Ein grossartiger Fundus, dem man sich nur unsystematisch und vorbehaltlos nähern kann. Denn eines steht fest: Die junge brasilianische Literatur ist überraschend, sie ist neu, radikal und erfrischend. Weltliteratur auf der Höhe des 21. Jahrhunderts, der mit den Rastern der «Fremdheit» nicht mehr beizukommen ist.