«Etwas stimmte nicht.» Was mit drei Worten zu Beginn des Buches gesagt wird, bedeutete im Leben von Thomas Melle eine Tragödie, die in den folgenden Jahren sein Leben prägen sollte.
«Glühender Matsch»
1999 – im Alter von 24 – erlebte er seine erste Psychose; Realität und Wahn vermengten sich, «im Kopf war glühender Matsch». Die WG-Kollegen am Frühstückstisch waren sich einig, mit Thomas stimmte etwas nicht.
Er selber konnte sich auf sein Verhalten auch keinen Reim machen; zumal die Erinnerungen eh lückenhaft waren.
«Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr», notiert Melle im Buch: «Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Und Sie wissen nicht mehr, wer Sie waren.»
Beziehungen gingen in Brüche
Thomas Melle leidet unter einer schweren Form von Bipolarität; seine drei manischen Schübe erfolgten heftig und dauerten zum Teil länger als zwölf Monate; dann folgte jeweils unweigerlich der Fall in die Dunkelheit der Depression.
Monatelang war er in Kliniken; oft wurde er von Leuten im nahen Umfeld – gegen seinen Willen – eingewiesen. Er habe sich in solchen Momenten jeweils völlig verraten und alleingelassen gefühlt, sagt er im Rückblick.
Die Krankheit nahm ihm über die Jahre praktisch alles, was er besessen und was ihn ausgemacht hatte: Beziehungen, Freundschaften, Renommee und Selbstvertrauen; aber auch Geld, Wohnung und Job.
Ein wahr gewordener Alptraum
Selbst beim Suhrkamp-Verlag flog er raus, weil er in einem manischen Moment Verlegerin Ulla Berkewicz angerempelt und ihr unterstellt hatte, der Arm im Gips sei nur ein Bluff.
Auch davon erzählt Thomas Melle in diesem Buch; und er verhehlt auch andere Peinlichkeiten und Katastrophen nicht. Der Bericht liest sich zuweilen wie ein wahr gewordener Albtraum: immer wieder wird Melle mit Taten konfrontiert, die ein anderes «Ich» in ihm ausgeführt hat, und für die er nun geradestehen musste. Alkoholexzesse und Kaufräusche gehörten ebenso zu seinem Alltag wie Hartz IV oder Hausverbote.
Humor trotz Tragik
«Eine bittere Clowneske» nennt der Schriftsteller selber seinen Bericht. Vieles mutet tatsächlich an wie der Stoff aus einem schrägen Comic. Und ohne eine Prise Humor und Selbstironie, die bei aller Tragik doch auch immer wieder aufscheinen, wäre die Lektüre wohl schwer verdaulich.
Aber hier zeigt sich eben gerade die literarische Stärke dieses Schriftstellers: geschickt beherrscht er die Balance zwischen Nähe und Distanz; er findet passende Worte und Bilder, um der Wirrnis im Hirn gerecht zu werden und spiegelt auch formal – zum Beispiel mit Tempowechseln und variierenden Textlängen – seinen waghalsigen Ritt durchs Gefühlschaos.
Nie droht der Ton dabei larmoyant, anklägerisch oder sogar zynisch zu werden. Auch auf die Gefahr von Schönfärberei fällt er nicht rein. Im Gegenteil: Thomas Melle schont sich selber nicht, bringt immer wieder Verständnis auf für das Kopfschütteln der anderen.
Das Schreiben ist keine Therapie
Als Therapie hat er diese literarische Auseinandersetzung mit der Krankheit nie verstanden; vielmehr wollte er sein eigenes Schicksal für sich und andere – wie er es nennt – «erzählbar und verständlich machen». Deshalb durfte «nichts verklausuliert, überhöht oder verfremdet sein; alles soll offen und sichtbar daliegen. Soweit das eben möglich ist.»
Heute geht es Thomas Melle, wie er sagt, «gut»; seine Situation ist – auch dank Medikamenten – seit einigen Jahren stabil. Die letzten Schulden sind bald abbezahlt.
Natürlich sitzt immer noch die Angst vor einem nächsten Schub im Nacken, aber auch dafür ist er jetzt – wie er auf der letzten Buchseite notiert – gewappnet: «Sollte ich eine weitere Manie haben, möge mir jemand dieses Buch in die Hand drücken.»
So gesehen sei diese literarische Arbeit «auch ein Schritt ins Freie» gewesen. Und überhaupt scheint Thomas Melle mit seinem Schicksal irgendwie Frieden geschlossen zu haben: «Die Krankheit mag mich auf ewig gebrochen haben, vielleicht hat sie mich aber auch – gegen meinen Willen – zum Schriftsteller gemacht.»