Was will eine junge Frau in einer zerstörten Welt? Eben war sie noch ein Kind, nun kämpft sie gegen Macht, Kontrolle und Repression. Zum Haare raufen ist das. Zum durchdrehen.
Diese Jugendliche heisst Katniss, Tris oder auch Cinder. Egal ob sie in den «Hunger Games/Die Tribute von Panem» ein tödliches Spiel überleben muss, ob sie in «Die Bestimmung» als Kämpferin eine Verschwörung aufdecken muss oder in den «Luna-Chroniken» als Cyborg – ein Mischwesen aus Mensch und Maschine – das ganze Universum aus der Tyrannei führen muss. Diese Jugendlichen sind alle gerade mal 16 Jahre jung und sind Gejagte: Sie bedrohen das System, das aufgebaut wurde, um die Bevölkerung in Schach zu halten.
Heillos überforderte Heldin
Es sei typisch für Kinder- und Jugendliteratur, dass sie ihre Heldinnen und Helden heillos überfordere, sagt Manuela Kalbermatten von der Uni Zürich. Die Literaturwissenschaftlerin arbeitet momentan an ihrer Dissertation über dystopische Jugendliteratur. Ebenso typisch sei, dass diese Jugendlichen mit der Hilfe anderer die Welt tatsächlich retten würden – oder zumindest besser machten.
Auf Anhieb erschliesst sich nicht sofort, was Jugendliche an solchen Geschichten fasziniert. Träumen Heranwachsende denn nicht von einer perfekten Welt ohne Sorgen, in denen ihnen alle Möglichkeiten offen stehen? In denen demokratisch regierte Völker friedlich miteinander leben? Oder sind es vielmehr die Eltern, die meinen, sie sollten davon träumen?
Die Eltern als totalitäres System
Literatur nimmt für Jugendliche nicht den Platz einer Zukunftsfantasie ein – auch wenn die Geschichte in einer solchen angesiedelt ist. Vielmehr dient sie als Mittel, und die eigene Situation im Moment wiederzuspiegeln.
Die dystopische Gesellschaftsordnung wird dabei zur Chiffre: Das totalitäre System steht für die Autorität der Eltern. Kinder erleben diese als unumstösslich, Jugendliche beginnen sich daraus zu lösen. Eine Aufgabe, die einen an Grenzen bringt. Pubertierende entdecken ihren eigenen Willen, erschaffen in einem übertragenen Sinne eine eigene Weltordnung. Kein Wunder, erfahren die jugendlichen Heldinnen beim Weltretten wie ihre (meist weibliche) Leserschaft oft auch die erste Liebe.
Auseinandersetzung mit beängstigenden Entwicklungen
Doch das dystopische Setting nur als Grundierung für eine Coming-of-Age-Geschichte zu sehen, greift zu kurz. Gewisse Entwicklungen unserer Gegenwart machen Angst – dystopische Romane denken diese Entwicklungen weiter und laden somit zum Gedankenspiel ein. Was wäre wenn? Ein Merkmal, das allgemein dystopische Literatur auszeichnet:
Atomkraft ist seit Jahrzehnten ein Angstmacher. Fast alle literarischen Dystopie-Landschaften sind durch den Einsatz nuklearer Waffen zerstört und teilweise unbewohnbar. Auch Kriege machen Angst: vom Vierten Weltkrieg ist in manchen Büchern die Rede. Neuartige Epidemien bedrohen die Bevölkerung – auch sie tauchen in der dystopischen Literatur wieder auf, um einiges verschärft. Technik ersetzt den Menschen – manche Protagonistinnen haben bereits ein Smartphone in ihrem Kopf. Die Gentechnik verändert Mensch und Natur. Was, wenn diese in Zukunft verschmelzen? Wo hört der Mensch auf, ein Mensch zu sein? Mischwesen aus Menschen, Pflanzen, Tieren, aber auch Gegenständen hat die US-amerikanische Autorin Julianna Baggott erschaffen, in ihrer «Memento»-Trilogie.
Beruhigend jedoch ist eine Tendenz in der neuen dystopischen Jugendliteratur: Die jungen Heldinnen sind allesamt starke, mutige und vor allem selbstbewusste junge Frauen, die sich von niemandem vereinnahmen lassen. Solchen Frauen in Zukunft real zu begegnen: Das stimmt optimistisch.