Seit zwei Jahren ist sie auf Marsmission, die Sonde Curiosity der Nasa. In 230 Millionen Kilometer Entfernung surren die Motoren des rollenden Roboters und seine Räder holpern über das Gestein des roten Planeten. Hören können wir das nicht, denn die Curiosity hat zwar jede Menge Kameras und Messgeräte, aber keine Mikrophone.
Ziemlich stumm sind auch die Daten, welche die Curiosity regelmässig an die Erde sendet. Dennoch erklingen sie im dritten Teil des Programms «Utopia» der Basel Sinfonietta: in der riesigen Orchesterimprovisation «Conversation with Curiosity».
Die Curiosity-Daten hat der Astrophysiker Rudolf von Steiger vom Berner Space Science Institut zusammengestellt. Während der Zusammenarbeit fiel dem Fagottisten Marc Kilchenmann eine Ähnlichkeit auf zwischen der Wissenschaft und der Improvisation: «An der Wissenschaft fasziniert mich der Mut, am Anfang nichts zu wissen und dann Fragen zu stellen.»
Für die Improvisation müssten die Musikerinnen und Musiker auch viel Mut aufbringen. «Mut zum Beispiel, selbst Verantwortung für die Produktion des Werkes zu übernehmen, sich dem Moment hinzugeben und die gewohnten Rollen als Interpretinnen und Interpreten zu verlassen.»
Improvisieren nach Zahlen
Die 45 Musikerinnen und Musiker haben keine Noten vor der Nase, sondern Blätter mit Diagrammen, Koordinaten und rätselhaften Zahlenreihen. Die musikalische Deutung beginnt schon bei der Entscheidung, ob sie das Blatt horizontal oder vertikal auf ihr Pult stellen.
Einige der Daten zu Temperatur, Luftdruck oder der UV-Strahlung sind in Tonhöhen übersetzt. Andere sind mit Anweisungen versehen, wie etwa die Kurve mit den Temperaturschwankungen eines Tages auf dem Mars: «Je kälter es ist, desto langsamer ist das Tempo zu wählen. Bei Raumtemperatur entspricht das Tempo dem individuellen Ruhepuls.»
Die Marsdaten sind keine grafischen Partituren, sondern beamen die Musikerinnen und Musiker gedanklich auf den Mars und kurbeln ihre Kreativität an, erklärt Marc Kilchenmann, der mit Christine Wagner und Stefan Thut in einer Kerngruppe die Improvisation vorbereitet hat: «Die Daten sind ein Vehikel, ein Werkzeug. Es kann auch gut sein, dass ein Musiker oder eine Musikerin im Konzert spontan entscheidet, sie komplett zu ignorieren und nur dem Gefühl zu folgen.»
Kommunikation per Atemzug und Blinzeln
Obwohl sie eine uralte Praxis ist, ist die Improvisation heute vor allem im Jazz und in der experimentellen Musik etabliert. Aber schon wenn mehr als fünf Musikerinnen und Musiker am Start sind, wird es kompliziert. Wie ist das nun, wenn 45 Menschen improvisieren? Damit das nicht aus dem Ruder läuft, hat sich das Orchester in Untergruppen geteilt. Sie widmen sich jeweils einer Grafik und kommunizieren untereinander per Signal – so sorgt ein Blinzeln, ein Atemzug oder eine Geste für den sekundengenauen Einsatz.
Auch eine klare Klangvorstellung der Improvisation ist Teil der Spielregeln: Ein sich kontinuierlich bewegender, sphärischer Marsklang bildet die Grundschicht. Darauf setzen die Musikerinnen und Musiker spontan Einzelaktionen, wie kleine Tonspritzer, Eruptionen oder einen lauten Sandsturm, der im Laufe der 15-minütigen Improvisation durch das Orchester fegt.
Zwischen Spielregeln und Freiheit
In der Probewoche haben die Musikerinnen und Musiker die Ereignisse geübt und sich so peu à peu ein kleines Klangrepertoire zusammengestellt, aus dem sie im Moment des Konzerts schöpfen können: «Jazzmusiker kultivieren den Aufbau dieses Repertoires über Jahrzehnte. In einer Woche können wir da kaum Perfektion erlangen. Aber es ist ein Anfang» sagt Marc Kilchenmann.
Als Leiter der Proben ist er hin- und hergerissen: einerseits brauchen die Musikerinnen und Musiker ein Mindestmass an Leitplanken. Andererseits entfaltet die Improvisation ihre Magie erst, wenn so viel wie möglich offen und dem Moment überlassen bleibt.
Jede seiner Ansagen in den Proben schliesst also mit dem Satz «Ihr könnt es auch ganz anders machen» und der Ermutigung, bei der Aufführung mit Ungehörtem zu überraschen: «Ich wünsche mir sehr, dass Lust aufkommt für kreative Regelverstösse.»