«Die Flöte ist das leichteste Instrument von allen. Man spielt schnell gut», sagte Aurèle Nicolet einmal lachend. «Aber der Weg von gut zu sehr gut ist sehr lang». Er ist ihn gegangen, diesen Weg.
Mehr als Schönklang
Nach einem Studium in Zürich und Paris, wo er als 21-Jähriger den renommierten «Premier Prix» des Conservatoire de Paris gewann und ein Jahr später den «Concours de Genève», holte ihn 1950 der Dirigent Wilhelm Furtwängler als Soloflötist zu den Berliner Philharmonikern.
Neun Jahre lang spielte er dort – auch unter Sergiu Celibidache und Herbert von Karajan. Als Solist feierte er besonders in Deutschland, Russland und Japan Erfolge, wobei sein Herz nicht nur für das barocke und klassische Repertoire schlug, sondern auch für die zeitgenössische Musik.
Über 70 Jahre hat sich der gebürtige Neuenburger der Flöte gewidmet. Seine Markenzeichen waren einerseits die grosse natürliche Musikalität und der besonders warme Klang, bei dem es ihm aber stets um mehr als Schönklang ging, sagt sein ehemaliger Schüler Felix Renggli: «Sein Klang hat immer auch eine Botschaft vermittelt.»
Ein hartnäckiger und kompromissloser Lehrer
Aurèle Nicolet hat die Liebe für sein Instrument auch leidenschaftlich weitergegeben: Schon als 15-Jähriger hat er begonnen zu unterrichten. Später war er als Dozent in Berlin sowie Freiburg im Breisgau tätig und gab zahlreiche Meisterkurse. Schnell erlangte er den Ruf eines hartnäckigen, kompromisslosen und strengen Lehrers – damit hatte er Erfolg: Einer seiner Schüler war Emmanuel Pahud, der, wie sein Lehrer, blutjung die Stelle als Soloflötist bei den Berliner Philharmonikern ergatterte.
Es gibt viele Dinge, die Pahud an seinem Lehrer schätzte: Neben der musikalischen Vielfältigkeit auch die Neugierde für andere Kulturen: «Er hat sich für den Ostblock interessiert in Zeiten, als dieser völlig abgesperrt war – auch für Israel und Palästina. Und er war eine sehr empfindsame Person. Fasziniert hat mich auch seine Kompromisslosigkeit. Wenn er von mir etwas haben wollte, hat er nicht nachgelassen.»
Weit weg vom «Jammervolk»
Als Lehrer war Aurèle Nicolet etwas besonders wichtig: Nicht zu führen, sondern lediglich die Richtung vorzugeben. Aber er hat nicht nur gegeben, durch den Unterricht hat auch er viel bekommen: «Ich bin immer sehr gerne in Kontakt mit der Jugend in verschiedenen Ländern. Das ist die Gelegenheit für einen alten Mann, nicht nur mit alten Leuten, mit dem Jammervolk zusammen zu sein», sagte er kurz vor seinem 80. Geburtstag.
Der unendliche Atem
Der Flötist war einer der Pioniere der Zirkularatmung, einer Technik, die ein Spiel ohne Atempausen erlaubt. Einmal, so erzählte er, habe ihm diese Technik sogar das Leben gerettet: Als er nach einem Abend mit viel Wodka in eine Polizeikontrolle kam und in ein Röhrchen blasen musste, konnte er der Messung durch diese Technik entkommen.
Gelernt hat er die Zirkularatmung von Heinz Holliger. Der Schweizer Komponist, Dirigent und Oboist hat Aurèle Nicolet nicht nur den unendlichen Atem gelehrt, sondern auch Werke für ihn komponiert – genau wie Toru Takemitsu, György Ligeti oder Aribert Reimann.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 29.01.2016, 16:30 Uhr.