Der weiss geschminkte Kiss-Sänger Paul Stanley ist bekannt für seine übertriebenen Rockerposen. Im Youtube-Video verbiegt sich der Bad Boy vor dem Mikrophon, schuftet hart in seinem Glitzerkostüm und blickt grimmig in die Kamera. Soweit so üblich. Aber hier stimmt was nicht: die Musik tönt schief und krumm, Stanley singt dilettantisch mit einem gepressten Stimmchen und italienischem Akzent: «Ich will nicht zur Schule, ich will lieber Pizza essen.»
Das Video ist eine Parodie, im Netz bekannt als «Shred» – und es ist total lustig. Das Prinzip ist simpel: Eine andere Band hat dem Video der Kiss-Bühnenshow trashige Musik und einen neuen Gesangstext verpasst, wie bei der Neusynchronisierung eines Films.
Vier Schritte zum Shred
Voraussetzung für ein erfolgreiches Shred ist ein Musiker mit Macken: selbstverliebte Guitar-Heroes eignen sich da bestens: sie verziehen ihr Gesicht bis zur Ekstase wenn sie ein schnelles Solo hinlegen – «Shredding» heisst diese Gitarrentechnik in der Fachsprache. «To shred» heisst auf Englisch aber auch so viel wie «zerfetzen» oder «zerreissen».
Und das passiert im nächsten Schritt: Man lade das Video herunter und entferne die originale Tonspur. Nun spiele man synchron auf die Bilder eine neue Tonspur ein – möglichst so, dass es wie unterstes Musikschulniveau tönt. Tonspur zum alten Bild puzzeln und das Ganze wieder hochladen – fertig ist der Shred.
Links zum Thema
- Kiss-Shred (YouTube) Kiss-Shred (YouTube)
- Celine Dion Shred Celine Dion Shred
- Itzhak Perlman Shreds Itzhak Perlman Shreds
- Louis Armstrong and Frank Sinatra Shred Louis Armstrong and Frank Sinatra Shred
- Paco de Lucia Shred Paco de Lucia Shred
- Anna Rossinelli «Shine In The Light» (Der SRF 3 Shred) Anna Rossinelli «Shine In The Light» (Der SRF 3 Shred)
- Homepage von Stsanders Homepage von Stsanders
Virtuoser Dilettantismus
Ein Shred kann seine Komik aber nur dann entfalten, wenn jeder der falschen Töne perfekt mit den Bewegungen im Video harmoniert: Da muss jeder Fingersatz und Trommelschlag punktgenau passen. Dazu braucht es nicht nur Beobachtungsgabe und Geduld, sondern auch musikalisches Können. Die genialen Shredder – vor ihnen verneigen sich gestandene Musiker und die Parodierten selbst – dekonstruieren zwar das Lied, beherrschen aber die Spieltechnik eines Miles Davis oder Carlos Santana.
Richtig falsch zu spielen ist also gar nicht so einfach. Wer noch üben muss, der findet im Netz Hilfe: vom Kiss-Shred gibt es den neuen Text zum Nachsingen und die Gitarrengriffe zum nachspielen – denn als nächstes soll auch der Shred geschreddert werden.
Die Anregung zur Parodie auf die Parodie kommt vom Shred-Erfinder höchstpersönlich: Hinter dem Username StSanders steckt der Gitarrist und Medienkünstler Santeri Ojala, der aus einem kleinen Dorf in Finnland kommt. Auf die Idee zum Shred kam er vor zehn Jahren, als er ein Youtube-Video vom Stunt-Gitarristen Steve Vai auf stumm schaltete und sich über die seltsamen Gebärden kaputtlachte. Seine Shreds von Gitarrenlegenden von Van Halen bis Eric Clapton sind Kult – und zu Youtube-Hits geworden.
Alle Genres in den Schredder
Online ist seit dem eine ganze Shred-Kultur entstanden und Hunderte von humorvollen Musikerinnen und Musikern haben das audiovisuelle Irritations-Spiel weiterentwickelt. Neue Shreds kreuzen Genres und machen zum Beispiel ein harmloses Duo von Frank Sinatra und Louis Armstrong zum wilden Death Metal-Sturm. Auch vor der klassischen Musik machen Shreds keinen Halt: So scheitert der berühmte Geiger Itzhak Perlman plötzlich kläglich am Vivaldi-Solo – die Tonspur wurde in diesem Falle mit der eines schlechten Jugendorchesters ersetzt.
Auch wenn Celine Dion keinen Ton mehr trifft sind die Hände von Shreddern im Spiel – die Tonhöhen ihres Gesangs und der markanten Panflöte im Titanic-Song wurden über eine Musiksoftware manipuliert. Das bekannte, todgedudelte Lied wird zum musikalischen Worst-Case-Szenario. Doch ihr pathostrunkenes Gesicht bleibt – da muss man einfach lachen. Ein bisschen mehr als nur ein Witz sind die Shreds am Ende auch: Sie machen sich lustig über den heiligen Gral der Virtuosität, übertriebene Selbstinszenierung und Starkult.