Wenn der Afghane Ismael im mobilen Zelt-Tonstudio im Flüchtlingscamp bei Calais ins Mikro singt, dann klingt das, als singe er um sein Leben. Die Taliban folterten ihn, nachdem sie ihn beim Musizieren erwischten. Mit seiner Frau und drei kleinen Kindern sitzt der junge Musiker nun im Camp in Calais fest und hofft, irgendwann über den Eurotunnel nach Grossbritannien zu gelangen.
Aufgenommen wurde sein Lied im Rahmen der «Calais Sessions», in denen Musikerinnen und Tonmeister aus London im Camp in Calais Talente aufspüren und ihre Musik für eine Compilation aufnehmen. Dies ist eines von vielen Musikprojekten, die dieser Tage mit einem Album und einer Reihe kurzer Dokumentarfilme an die Öffentlichkeit gehen. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist gross, und Geschichten wie jene von Ismael müssen erzählt und gehört werden. Doch gleichzeitig stecken hinter solchen Musikprojekten oft Fallstricke, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick sieht.
Kritik führt schnell aufs Glatteis
Raimund Vogels, Professor für Musikethnologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover und Leiter des Center for World Music in Hildesheim, schaut bei Musikprojekten mit Geflüchteten genau hin. Solche Projekte zu kritisieren, sei allerdings fast ein Tabu, sagt er: «Man muss ja den guten Willen der Initiantinnen und Initianten honorieren.»
Ein erster Kritikpunkt: Oft gehen die Projekte an den Bedürfnissen der Geflüchteten vorbei. Raimund Vogels: «Wir haben mit Geflüchteten in Hannover gesprochen. Dabei haben wir herausgefunden, dass sie sich eher einen YouTube-Abend wünschen, wo sie sich gegenseitig Musik vorspielen können, als interaktive Mitmach-Projekte.»
Auch bei den Calais-Sessions musizieren britische Musikerinnen und Musiker gemeinsam mit den Geflüchteten. Sola Akingbola aus London, der Perkussionist der Gruppe Jamiroquai, hat an einer Session teilgenommen. Er hat aber versucht sich im Hintergrund zu halten: «Ich wollte keine Interaktion erzwingen und ihnen meine eigene musikalische Persönlichkeit aufdrängen. Oft habe ich ihnen einfach nur zugehört.»
Musik allein kann nicht helfen
Ein zweiter Kritikpunkt: Wir kennen sie, die nimmermüden Metaphern von Musik als Weltsprache, von Musik als Brückenbauerin zwischen den Kulturen, von Musik, die Grenzen überwindet. Sola Akingbola sagt, dass sich Musikprojekte mit Geflüchteten nicht auf diesen Versprechen ausruhen dürfen: «So eine Session im Camp von Calais hat kein praktisches, politisches Gewicht. Sie kann nur für einen kurzen Moment zum emotionalen Wohlbefinden der geflüchteten Musikerinnen und Musiker beitragen. Musik allein kann nicht helfen.»
Nachhaltig sind die Projekte nur, wenn sie dazu beitragen, dass die geflüchteten Musikerinnen und Musiker auch im politischen Diskurs wahrgenommen werden. Und wenn sie bestenfalls Chancen bekommen, als Musikerinnen und Musiker in den Arbeits- und Bildungsmarkt und ins Kulturleben einzusteigen. Einen kleinen Schritt in diese Richtung versuchen die Calais Sessions: Sie stellen die Musikerinnen und Musiker auf ihrer Homepage in Kurzporträts und Videos vor. Und sie sehen den Verkauf der Compilation als Verdienstmöglichkeit für die geflüchteten Musikerinnen und Musiker.
Der verengende Blick auf die Defizite
Ein dritter Kritikpunkt: Die Projekte verengen oft den Blick, weil sie die Menschen vordergründig als Geflüchtete repräsentieren, und nicht als kompetente Musikerinnen und Musiker, die unser Kulturleben bereichern. Die Calais Sessions wollen dem entgegenwirken, indem sie sich als Talentplattform verstehen und die Kompetenzen der Musikerinnen und Musiker in den Vordergrund stellen. «Was die musikalischen Fähigkeiten betrifft, sind wir auf Augenhöhe», ist die Londoner Cellistin Vanessa Lukas-Smith, die die Calais Sessions ins Leben gerufen hat, überzeugt.
Die Dynamiken innerhalb eines Musikprojekts mit Geflüchteten sind also vielschichtig und komplex. Aber wo viele Fallstricke sind, sieht Raimund Vogels auch viel Potenzial: «Musik kann in den Flüchtlingscamps dazu beitragen, dass die Menschen miteinander in Verbindung treten. Und sie kann den geflüchteten Menschen eine Stimme zu geben. Und uns kann sie die Chance geben, unseren Blick auf Musik zu öffnen»