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Musik Regula Mühlemann (3/3): Die Arie am falschen Ort

Im Opernhaus mögen Menschen Opern. Aber wie sieht es ausserhalb der heiligen Hallen aus? Opernsängerin Regula Mühlemann lässt sich in Paris zu einem Experiment verführen und beweist dabei Nerven aus Stahl.

Die Toleranzgrenze gegenüber Koloraturen in den höchsten Lagen ist nicht grenzenlos. Wir wollen das ausloten und gehen mit Sopranistin Regula Mühlemann und versteckten Kameras auf Forschungsreise.

Sendehinweis

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Am 20. April um 21 Uhr ist Regula Mühlemann auf Radio SRF 2 Kultur zu hören:

Gioacchino Rossini: «Petit Messe Solonelle»

(Konzertaufnahme im KKL)

Was im Opernhaus das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreisst (in diesem Fall die Mozart-Arie «Alla selva, al prato»), entlockt dem Sitznachbarn in der vollbesetzten U-Bahn im besten Falle ein mitleidiges Lächeln: Handelt es sich hier um ein Individuum mit übersteigertem Geltungsdrang? Ein Opfer von Designer-Drogen? Ist geistige Krankheit im Spiel? Herrlich. Dabei singt eine Opernsängerin lediglich eine Arie am falschen Ort.

Die U-Bahn Arie

«Erlaubt ist, was nicht stört», meint die Polizei. Dieser Logik folgend ist es höchst irritierend, wenn jemand, unscheinbar in einem öffentlichen Verkehrsmittel sitzend, unangekündigt eine Arie los schmettert. Pendler wollen lieber ungestört aufs Smartphone starren, Zeitung lesen oder Musik hören. Musik? Ja, selbst gewählte Musik. Wer mag es schon, wenn sich die Mariachi-Truppe ungefragt an den Restaurant-Tisch stellt und zu trällern beginnt?

Die ungehemmte Opernsängerin in der U-Bahn ist wie die Mariachi-Truppe beim Mexikaner. Allerdings wollen die Mariachis Geld und buhlen um Aufmerksamkeit. Mühlemann singt einfach eine Arie. Und sie widersteht stoisch den irritierten Blicken ihrer Mit-Pendler. Kommt gleich eine Schimpf-Tirade oder ein Buch geflogen? Ganz sicher sind wir uns nie. Wir halten die Kamera versteckt und versuchen nicht zu lachen. Es ist skurril.

Die Arie im Park

Regula Mühlemann: Web-Videos

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Porträt einer jungen Frau mit Foulard und schwarzem Hut.
Legende: Esther Michel

Teil 1

Mühlemann über ihre Rolle als Papagena in der «Zauberflöte» an der Opéra Bastille.

Teil 2

Die Sopranistin über ihre Stimme als Instrument.

Teil 3

Ein Feldversuch mit Mozart in der U-Bahn und im Park.

Im «Jardin des Tuileries» gerät Mühlemann dann in einen Schwarm Tauben und beginnt zu singen. Gleiche Sängerin, gleiche Arie. In der Wahrnehmung der Umstehenden aber mutiert sie von der U-Bahn-Soziopathin zur Strassenkünstlerin.

Irritierte Blicke gibt es zwar noch immer: es ist kein Hut da fürs Kleingeld, also kein nachvollziehbarer Grund zum Singen. Warum singt die denn bloss? Trotzdem wird innegehalten, höflich gehüstelt, gelächelt und natürlich mit allen erdenklichen Utensilien fotografiert.

Ein paar Mundwinkel werden zu Os, andere schnellen nach oben. Bücher kommen auch in Gedanken keine geflogen. Der Mensch ist ein interessantes Gewohnheitstier: Überraschen lässt er sich vor allem gerne von dem, was ihn nicht wirklich überrascht. In diesem Falle eine Sängerin, die in einem Park singen will.

Das Leben ist kein Format-Radio

Nach vollbrachtem Experiment sind wir uns einig, dass es der Menschheit gut anstehen würde, wenn sie öfter von der Musik überrascht würde, statt diese als Konsumgut zu verschlingen nach dem Motto: «Erlaubt ist, was nicht stört.» Nach diesem Grundsatz funktionieren Format-Radios. Aber das Leben ist kein Format-Radio, und die Musik schon gar nicht.

Trotz Lärmbelastung im Hochtonbereich und erheblichem (Fremdschäm-) Risiko wäre es darum äusserst erbaulich, wenn Opernsängerinnen im öffentlichen Raum vermehrt den Arien freien Lauf lassen würden. Die Oper in der Oper bleibt in der Oper. Auf der Strasse bewegt sie uns alle.

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