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Mann steht im dunkeln an einem Keyboard.
Legende: Tristano studierte an der Julliard School klassisches Klavier und lernte zugleich den Detroit Techno kennen. francescotristano.com

Musik Wenn Klassik und Techno zusammen tanzen gehen

Klassische Musik auf dem Dancefloor? Das ist inzwischen gang und gäbe. Natürlich nicht im Original. Sondern frisch aufbereitet, auseinandergenommen, mit neuen Sounds und Grooves versehen und wieder zusammengesetzt. Das Resultat überzeugt.

«Recomposing» ist das Zauberwort der Stunde. Unter diesem Begriff werden Werke von Bach bis zu Steve Reich, von Vivaldi bis Pierre Boulez neu interpretiert («recomposed») – von Künstlern der Clubmusikszene.

Die Stücke sind alle auf irgendeine Art neu erfunden. Aber so, dass das Original immer noch hörbar ist. Eines der ganz grossen Musiklabels hat sogar eine gane Serie zu Recomposed Music herausgebracht.

Alles nur aufgepeppt?

Soll das ein junges Publikum für die altehrwürdige Klassik begeistern? Schon, aber erst in zweiter Linie. Ganz sicher geht es nicht darum, Klassik billig mit Schlagzeug aufzupeppen, wie das ein David Garrett macht.

Mann in einem Radiostudio.
Legende: Der Geiger und Produzent Etienne Abelin konzipiert neue Konzertreihen, die verschiedenste Musikstile vereinen. SRF

Es geht um die Lust, grenzenlos zu sein. Um die Freiheit, sich in verschiedenen Genres bewegen zu können, was durch die Technologie immer einfacher wird.

Die Szene, die hinter dieser neuen Gier am Kanon der Musikgeschichte steht, ist eine kreative, innovative, offene und freie. Es sind Techno-Produzenten. Es sind klassische Interpretinnen. Es sind Komponisten.

Mit Orchester und Computer

Der Filmkomponist Max Richter zum Beispiel hat Vivaldis vier Jahreszeiten völlig neu geschrieben und vom Orchester einspielen lassen.

Die Produzenten Carl Craig und Moritz von Oswald hingegen sitzen am Computer, lassen Beatmachines und Synthesizer krachen; zerschneiden, filtern, pumpen und tüfteln.

Und der Pianist Francesco Tristano geht selber in den Club mit ein paar Orchestermusikern. Diese spielen aus der Partitur, er sitzt am Laptop und am Steinway, und zusammen wird live eine Liaison von Klassik und Clubmusik geflochten.

Tristano hat als Jungstudent in NY an der renommierten Julliard School klassisches Klavier studiert und zugleich den Detroit Techno kennen gelernt. Er lebt beide Genres.

Kein Techno ohne Bach

Tristano kann gar nicht anders, als sie zusammen zu bringen: «Ich habe nie versucht, mir ein Genre einzuverleiben und bewusst mit dem klassischen zu verbinden. Ich war einfach immer ich selber. Ausserdem gäbe es auch keinen Techno ohne Bach. Es gibt keine Grenzen.»

Tristano ist überzeugt, dass der Nebeneffekt seiner Neugier auch aufs Publikum abfärbe. Und dass Leute, die sich für Klassik interessieren, sonst nie auf Boulez gestossen wären.

Nicht nur Klassik, auch Neue Musik ist gefragt

Audio
Pierre Boulez: Répons (Original)
02:58 min
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 58 Sekunden.

Denn auch das gibt’s: Recomposed music der zeitgenössischen klassischen Musik. Ein glänzendes Beispiel ist «Répons» von Pierre Boulez, vom finnischen Musiker Jimi Tenor «reimagined»:

Das geniale Stück von Boulez bleibt genial, bekommt aber eine humorvolle Note via Synthesizern, frisch eingespieltem Theremin und bewusst einfachem Beat. «Jimi Tenor macht aus dem Stück ein Hörspiel, einen Krimi», meint der Geiger und Produzent Etienne Abelin.

Audio
Pierre Boulez: Répons (Recomposed by Jimi Tenor)
03:13 min
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 13 Sekunden.

Auch er ist ein Vertreter der Sampling Szene, der neue Konzertreihen konzipiert, die nicht nur Klassik und Techno, sondern überhaupt Musikstile zusammen bringt.

Neue Zuhörer für alle Genres

Intelligentes Sampling kann in einem knapp 8-minütigen Track Bartok, Paganini und Strawinsky kombinieren und dazu noch ein Zitat aus einem Stück der Soulband The Winstons von 1969 hineinschmuggeln.

Die Quellen sind im Internet rasch recherchiert. Klassikaffine Hörererinnen nehmen staunend zur Kenntnis, dass auch die Rockgeschichte längst einen Kanon hat und zitierwürdig ist.

Nicht Klassikaffine hören sich im Anschluss auf Spotify im besten Falle Bartoks Streichquartette an. Was will man mehr?

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