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Zwei Mikrofone
Legende: Am Karaoke-Mikrofon kann jeder seinen glamourösen Auftritt haben. Reuters

Musik Wo man Karaoke singt, da lass dich ruhig nieder

Im Pariser Stadtteil Marais gibt es ein Kellerlokal, das zwar schmucklos, aber dennoch zauberhaft ist. «L'Enchanteur» heisst es, «Der Magier». Gezaubert wird hier am Mikrofon: In dieser Karaoke-Bar erzeugen schiefe Töne Harmonie.

Vielleicht sind sie ja hier zu finden, die notorischen 15 Minuten Weltruhm für jeden, von denen Andy Warhol einst gesprochen hat? Obschon, um Ruhm geht es gerade nicht beim Karaoke. Schon eher um «Superstars», so wie Andy Warhol sie gesehen hat: gewöhnliche Menschen wie du und ich. Seit der Japaner Daisuke Inoue Anfang der 1970er-Jahre seine Landsleute mit dem «leeren Orchester» (was Karaoke auf japanisch bedeutet) aus der Reserve holte, kann jeder am Playback-Mikrofon einen glamourösen Auftritt haben.

Artikelreihe «Trouvaillen»

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Manchmal zeigt sich Kultur im unscheinbaren Lokal in einer fremden Stadt, in einem verlassenen Tal oder im schnöden Alltag. Die Redaktorinnen und Redaktoren von SRF Kultur stellen übersehene Kultur-Trouvaillen von 2014 vor.

Magischer Gesang

Zum Beispiel in diesem eigentlich völlig ungeeigneten, winzigen Kellerlokal in Paris: «L'Enchanteur» heisst es, der Name allein ist schon zauberhaft. Ein «enchanteur» ist ein Magier, aber im Wortspiel klingt natürlich auch «chanter» mit, singen.

Man darf sich von dem lieblos grauen Entrée nicht abschrecken lassen, das die Betreiber hoffnungsvoll als «Dancefloor» bezeichnen, man steigt direkt die Kellertreppe runter, und da geht’s los. Nur sollte man nicht zu früh kommen. «L'Enchanteur» ist gewöhnlich die letzte Station einer ausgedehnten nächtlichen Tour, nachher kommt höchstens noch das Katerfrühstück.

Frédéric und Jalil singen jetzt gemeinsam «Dancing Queen». Rosalie hat sich vorher an Rihanna versucht. Angefeuert von einer rothaarigen DJane, die sich vermutlich in ihren Ferien im Club Méd als Animatorin verdingt – nein, das ist ungerecht: sie ist wirklich klasse, unverkrampft und gastlich, sie kann Stimmung machen und man lässt sich bereitwillig darauf ein.

Seichte Lieder klingen hier tief

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Mikaël ist nun dran. «On te regarde!» Und wo es nicht so recht klappen will, singt lautstark der ganze Saal mit. Wir sind inzwischen bei Céline Dion. Mylène Farmer, Jean-Jacques Goldman – Karaoke ist so etwas wie die Glorifizierung des Kitschs. Eine Apotheose des Sentimentalen. Noch der seichteste Schlager klingt hier einfach toll. Und so tief und wahr.

Ob es am Gin and Tonic liegt? Oder an der Authentizität der Kunstform selbst? Es ist vielleicht das Paradox des Karaoke, dass in der Nachahmung die Wahrheit zu finden ist. Die Kopie ist authentischer als das Original. Denn um Simulation geht es gerade nicht im Karaoke, sondern ums eigene Empfinden im fremden Lied. Keiner, der da zum Mikrophon greift, will für 15 Minuten in die Haut eines Stars schlüpfen.

Darin liegt auch der Unterschied zu Castingshows. Es geht um nichts als «Fun entre amis»: den ausgelassenen Spass, den geteilten Moment, die Freude am gemeinsamen Singen, vielleicht vermischt mit ein bisschen spätabendlicher Sentimentalität. Auch Beziehungen sollen schon gestiftet worden sein im «Enchanteur». Es gibt die Habitués und die Zufallsbesucher, die Hipster und die Huschen. Der eine hat offensichtlich geübt zu Hause, der andere trifft nicht einen Ton – es macht nichts, darauf kommt es am wenigsten an.

Gemeinsam singen

Alte Leute erzählen manchmal noch, wie schön es war, wenn sie früher abends zusammensassen und Lieder sangen. Das gemeinsame Singen ist ein wenig in Verruf geraten durch Studentenverbindungen und bürgerliche Gesangsvereine, und das Fernsehen hat dieser Art der Abendunterhaltung vollends den Garaus gemacht. Aber vielleicht lebt ja eine Spur davon im Karaoke fort? Wo es Karaoke gibt, da lass dich ruhig nieder!

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