- Yehudi Menuhins Auftritt im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen nach dem Zweiten Weltkrieg stiess bei den Juden auf Kritik.
- Menuhin hielt Nationalstaaten für überlebt – das galt auch für Israel.
- Menuhin empfand ein «jüdisches missionarisches Bedürfnis, sich moralisch für seine Existenz zu rechtfertigen.»
Auftritt in ehemaligem Konzentrationslager
Als Europa in Flammen steht und die Naziherrschaft andauert, regt sich in Yehudi Menuhin erstmals jener Impuls, der ihn ein Leben lang leiten sollte: «Ich wollte etwas verändern, meinen Beitrag zu einer friedlicheren Welt leisten.» Während des Zweiten Weltkriegs gibt Yehudi Menuhin über 500 Konzerte in fast allen Staaten, in denen alliierte Truppen stehen: auf Hawaii, in England und auf Puerto Rico.
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Nach Kriegsende tritt er als erster jüdischer Künstler wieder in Deutschland auf und ruft mit seinen Auftritten im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen die Kritiker auf den Plan. Sein «Mayofes-Tanz» mit dem Komponisten Benjamin Britten am Klavier sei ein Skandal, liest man im September 1945 in der jüdischen Zeitung «Unzer Sztyme». Menuhin habe vor polnischen Zwangsarbeitern gespielt, statt «seine Brüder zu besuchen, die hier immer noch unter schwierigen Bedingungen leben». Mayofes bezeichnet im Jiddischen abwertend einen Juden, der einem Nicht-Juden in würdeloser Weise dient.
Später, im Herbst 1947, tritt Yehudi Menuhin in Berlin mit dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler auf und spielt für jüdische und nicht-jüdische Wohltätigkeitsorganisationen. Ausgerechnet mit Wilhelm Furtwängler, der als Stardirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters auch ein Propagandainstrument des Naziregimes gewesen war. Unter einer Karikatur in der Landsberger «Jidiszen Cajtung» steht der Satz: «Menuhin fiedelt für den Teufel».
Judentum als Brücke zum Menschentum
Was trieb Yehudi Menuhin an? Frieden sei ein Kampf und kein Paradies, sagte er. Ausserdem sei das Judentum für ihn nur eine Brücke zum Menschentum: «Ich bin nicht eng jüdisch, das kann ich auch nicht leiden.» Diese Antwort leistete sich Menuhin in den 1990er-Jahren. Das war lange nach dem Protest prominenter jüdischer Musikerkollegen wie Jascha Heifetz und Leonard Bernstein und 40 Jahre nach Menuhins erster Israel-Tournee.
Nationalstaaten hielt Menuhin in ihrer Struktur für überlebt, so auch Israel. Vielmehr gehe es dort darum, die ethnischen Gruppen zu versöhnen und einen binationalen Staat für beide Völker zu schaffen: Jerusalem als Hauptstadt, vergleichbar mit Bern als Hauptstadt der französischen und der deutschen Schweiz.
Yehudi Menuhin, ein Anti-Zionist?
War Yehudi Menuhin ein Anti-Zionist und darin seinem Vater ähnlich, der sich vom überzeugten Zionisten zum radikalen Anti-Zionisten gewandelt hatte? Wie stand er zu seinem Sohn Gérard Menuhin, der sich bis heute als Holocaust-Leugner hervortut, in der rechtsnationalen «National-Zeitung» als Kolumnist auftritt und 2015 sein neustes, gegen die Rassismus-Strafnorm verstossende Buch veröffentlichte?
Dazu finden sich keine verlässlichen Zeugnisse. Gut vorstellbar, dass sich Menuhin diese Fragen verbat. Jedenfalls versuchte er 1991 Tony Palmers ungemütliche Familienbiografie zu verhindern. Darin schreibt Menuhins Schwester Yaltah über die überprotektiven Eltern, die verbal bis in das Schlafzimmer ihres Erstgeborenen vordrangen, um den Sex des frisch verheirateten Sohnes zu regeln.
Rechtfertigungsdruck war riesig
Auffallend ist der missionarische Eifer, der die männlichen Menuhins antrieb. Yehudi Menuhin suchte mit Blick auf seinen Freund, den Geiger Isaac Stern, nach einem Motiv: «Wir beide haben, was man ein angeborenes jüdisches missionarisches Bedürfnis nennen könnte – ein Bedürfnis, sich moralisch für seine Existenz zu rechtfertigen.»
Folgt man Menuhins Erklärung, muss sein Rechtfertigungsdruck riesig gewesen sein. Andauernd war sein Selbstwert in Frage gestellt – obwohl er der berühmteste und bestbezahlte Geiger des 20. Jahrhunderts ist, obwohl seine Initiativen für die musikalische Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher weltweit geschätzt werden, obwohl er als Friedensbotschafter in die Musikgeschichte eingegangen ist.
Als er 1999 in einem Krankenhaus in Berlin im Sterben lag, soll er zuletzt vom Nahen Osten und der gescheiterten israelischen Politik gesprochen haben. Am Ende war er enttäuscht, sagt seine Tochter Zamira, «nichts, was er tat, hätte die Welt verändert». Ob daraus Eitelkeit und Kränkung oder Understatement und Selbstzweifel sprachen, bleibt offen.