«Big Brother is watching you!»: Das ist eines der wirkungsmächtigsten Motive der modernen Literatur. Der Imperativ aus George Orwells «1984» ist die wohl weltweit bekannteste Chiffre der Massenüberwachung und zugleich das wirksamste Leitmotiv ihrer Gegner. Ein Slogan für Transparente, für Aufrufe und Leitartikel. Der schrille Weckruf gegen eine Zukunft, die schon begonnen hat?
Eine fugenlose Überwachung
Beiträge zum Thema
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In Orwells Roman ist es einfach die Hölle. 1948, unter dem Eindruck stalinistischen Terrors geschrieben, ist «1984» die negative Utopie einer fugenlosen Diktatur der Überwachung. «Neusprech» und «Doppeldenk» formatieren Sprache und Denken, der «Teleschirm» sieht und hört alles:
«Immer die Augen, die einen beobachteten, die Stimme, die einen umgab. Im Wachen oder im Schlaf, bei der Arbeit oder beim Essen, drinnen oder draussen, im Bad oder im Bett – es gab kein Entrinnen. Nichts gehörte einem, bis auf die paar Kubikzentimeter im eigenen Schädel.» Und auch die sind bloss schöne Illusion.
Privat ist nichts, alles ist öffentlich
Transparenz und Öffentlichkeit, das sind die prägenden Merkmale einer Gesellschaft, in der sich erste Motive der digitalen Welt erkennen lassen. Das Ende des Privaten beispielsweise. Privat ist nichts, alles ist öffentlich – und damit innerlich kontrolliert, bevor es der Kontrolle Dritter bedarf.
«1984» ist auch ein Polizeistaat, eine graue Welt des Mangels, beherrscht von einer undurchsichtigen Überwachungsbürokratie. Geschichte wird ständig um- und neu geschrieben, Gegner werden «vaporisiert», rückwirkend ausgelöscht, so als hätten sie nie existiert. Im «Teleschirm» ist der PC zu ahnen, die Laptops, Smartphones und die anderen digitalen Begleiter der Gegenwart. Aber: Ein Glücksversprechen ist nicht auszumachen, «schön» ist diese neue Welt nicht:
«Es war entsetzlich gefährlich, in der Öffentlichkeit oder im Aufnahmebereich eines Teleschirms seine Gedanken schweifen zu lassen. Die geringste Kleinigkeit konnte einen verraten. Eine nervöse Gesichtszuckung, ein unbewusst-ängstlicher Blick, die Angewohnheit, vor sich hin zu murmeln – alles, was auch nur den Hauch von Abweichung oder Heimlichkeit trug.»
«Schön» ist die Welt nur bei Huxley
«Überwachung» ist ein Modus des Staates, ein Modus der Unterdrückung, wie in Ray Bradburys «Fahrenheit 451», der negativen Utopie einer Welt ohne Bücher. Eine Art Polizei-Feuerwehr verbrennt sie, anstatt Brände zu löschen. Oder in Magaret Atwoods «Report der Magd», der Vision einer total überwachten Klassengesellschaft.
«Schön» ist die neue Welt nur bei Aldous Huxley. Sein Roman «Brave New World» (dt. «Schöne Neue Welt») von 1932 blickt weit in unsere Zukunft. Hier ist alles Glück, jedes Versprechen realisiert. Das Private ist von gestern, aber der Terror ist es auch. Unterdrückung ist unnötig, Überwachung nach innen verlegt, in das Bewusstsein der Menschen einer durch und durch hedonistischen Gesellschaft.
«Jeder gehört jedem»
Das klingt vertraut in den Perspektiven der Gegenwart. Da, wo schon das Allein-Sein Skandal machen kann, wo das Glück der Dauerkommunikation nicht hinreichend als Selbstverpflichtung angenommen ist. Aldous Huxley schreibt seinen Zukunftsentwurf unter dem Eindruck der amerikanischen Kulturindustrie, und es sind ihre Entwicklungen, die den Weg in die Zukunft flankieren. Hier ist niemand allein, Optimismus, Integration, Gesundheit und genetische Kontrolle sind Pflicht, Freiheit ist eine gänzlich unbekannte Kategorie. «Jeder gehört jedem» lautet die Glücks-Formel, «Soma» ist die Droge.
Michel Houellebecq schreibt, dass Huxleys Welt auch in unserer ist. Man muss nicht unbedingt Misanthrop sein, um das auch zu sehen. Staat und Wirtschaft, wenigstens in den USA, arbeiten heute gemeinsam an einer Massenüberwachung, deren Motor die digitale Technik ist. «The Circle», der neue Roman des amerikanischen Autors Dave Eggers, beschreibt den Stand der Dinge: Zukunft ist Gegenwart.