Sie wollen ihren Kopf zurück, ihre Patente oder gar ihre Humanität: ein Manga-Mädchen, ein Professor mit rotem Schlips und ein Monster. Zu sehen sind sie auf Bildern und Videos, die im Web herumgereicht werden, auf Seiten wie tumblr oder Know your Meme.
Wer weiter stöbert auf diesen Seiten, der findet rosarote und gelbe Ponies, Kätzchen und Skelette, die alle ihren Hut vermissen. «Ich will meinen Hut zurück» oder «Mein Hut ist weg» und «Hast du ihn gesehen?» steht da auf englisch. Aber warum bloss diese Suche?
Eine Antwort darauf wissen diejenigen, die Kinder haben und ein Faible für klassische Bilderbücher mit sparsamer, ausdrucksstarker Illustration: «I want my hat back» – «Ich will meinen Hut zurück», das sagt der grosse, braune Bär in Jon Klassens Kinderbuch mit dem gleichnamigen Titel. Der Bär sucht verzweifelt nach seinem Hut, der ihm gestohlen wurde. Und fragt bei allen Tieren nach, beim Fuchs, Frosch, bei der Schlange.
Ganze Buch-Parodien
«Hast du meinen Hut gesehen?», fragt er auch das Kaninchen, das ganz ungehalten reagiert: Es stehle doch keine Hüte. Doch der Leser sieht: Das Kaninchen trägt einen spitzen, roten Hut. Der Bär bemerkt dies nicht. Erst Seiten später, als er einem anderen Tier erklärt, wie sein Hut aussieht, realisiert er, dass er ihn gesehen hat – auf dem Kopf des Kaninchens. Und der Bär holt sich vom Kaninchen den Hut zurück. Wie genau, bleibt offen. Eine einfache, auffällig schön gestaltete Bildergeschichte, die im Oktober mit dem Deutschen Jugendliteratur-Preis ausgezeichnet wurde.
In den USA ist das Buch des Kanadiers Jon Klassen schon länger ein Erfolg – und ein Internetphänomen unter Erwachsenen. Etliche Netzparodisten gehen soweit, dass sie nicht nur eine Parodie des Titelbildes, sondern gleich das komplette Buch neu bebildert ins Netz stellen. Da werden auch gerne mal Anleihen bei anderen Autoren oder bei Filmen gemacht: So sucht Saint-Exupérys Kleiner Prinz nach seiner Rose und Hannibal nach seinem Kannibalen. Diese Parodien nennt man auch Mem.
Anleihen bei Buch- und Film-Klassikern
Mittlerweile ist bereits das Nachfolgebuch «Das ist nicht mein Hut» erschienen. Wieder geht es um Hutdiebstahl: Ein kleiner Fisch hat einem grossen den Hut gestohlen. Der Dieb schwimmt davon, der Grosse verfolgt ihn und holt sich den Hut zurück. Auch hierzu gibt es bereits jede Menge Meme dazu – mehr oder weniger geschmackvolle.
Was ist Recht? Was ist Unrecht? Was ist Eigentum, was Diebstahl? Wie weit darf Selbstjustiz gehen? Fragen, die Jon Klassens Bücher aufwerfen. Und die auch Erwachsene beschäftigen, wie die Adaption in der Form des Mem aufzeigen. Dazu kommt die sehr einfache, aber raffinierte Dramaturgie der Bücher, die von den Zeichnern in ihren abgewandelten Bildgeschichten in der Regel beibehalten wird.
«Ein Raum, der Andeutungen erlaubt»
Meistens jedenfalls. Wenn im Original der Bär den Hut zurückholt, sieht man den Bär auf dem Zweiglein sitzen, auf dem das Kaninchen vorher sass. Vom Kaninchen keine Spur. Der Text legt nahe, dass der Bär es gefressen haben könnte, man kann es aber auch anders verstehen.
Dasselbe beim Nachfolgebuch: Der kleine Fisch versteckt sich im Seegras, der grosse findet ihn dort. Die Rückeroberung findet irgendwo im Seegras statt, versteckt vor den Augen des Lesers. Der grosse Fisch verlässt das Grün, mit dem Hut auf dem Kopf. Der kleine Fisch hingegen taucht nicht mehr auf im Buch. Hat der grosse Fisch den kleinen gefressen? Klassen lässt den Schluss offen. Und genau das fasziniert an seinem Buch. «Wo Bild und Text zusammen kommen, entsteht ein Raum, der Andeutungen erlaubt», erklärt er.
Doch genau diesen Raum für Andeutungen, der die Faszination der beiden Bücher ausmacht, ignorieren etliche der Internetparodisten. Die jeweiligen Räuber werden in den Mem-Geschichten zuletzt meist plattgedrückt, es fliesst auch gerne mal Blut.
Stellt sich die Frage, ob das vermeintlich einfache Kinderbuch hier den erwachsenen Leser nicht schlicht und einfach überfordert – mit seinem offenen Raum für Andeutungen.