Pro Sekunde realer Zeit wird derzeit eine Stunde Videomaterial auf Youtube hochgeladen, wie die Website The Internet in Real-Time zeigt. Niemand kann sich mehr alle Youtube-Videos anschauen; die Datenmenge hat unsere Lebenszeit überholt.
Das verpixelte, unmittelbare Bild
Der Kunsthistoriker Robert Sakrowski setzt sich seit 2007 unter dem Label CuratingYouTube mit Webvideos auseinander. Mit Hilfe der eigens dafür programmierten Software gridr.org stellt er Gruppen von themenverwandten Videos zusammen, in denen etwa tanzende Menschen vorkommen oder bestimmte Musikinstrumente gespielt werden.
Doch wählt er die Youtube-Kunst nicht nur aus, sondern versucht – ganz im Sinne des Begriffs «kuratieren» – auch zu erhalten und somit zu pflegen. Denn Sakrowski sieht gerade in den Anfängen von Youtube eine unmittelbare Äusserung der Popkultur: unverwechselbar der charakteristische Ausdruck von Film und Kino fern der Hochglanzästhetik. Diese verpixelten, unmittelbaren Bilder waren es, die damals Sakrowskis Faszination hervorgerufen haben.
Einfachste technische Mittel
2014 produzierte der Berliner als Unterprojekt von «CuratingYouTube» das Videoformat Gallery Surfing. Dort surft Sakrowski durch virtuelle Kunstgalerien und bespricht mit Gästen das Gesehene. Im Hintergrund sind die aufgerufenen Seiten zu sehen. Und unter den auf Youtube publizierten Videos befinden sich Links der besprochenen Seiten, versehen mit Timecodes.
Produziert hat Sakrowski die Videos ohne professionelles Team. Er wolle den Youtube-Gedanken erhalten, sagt er. Alles soll zu Hause mit einfachsten technischen Mitteln realisiert werden können.
Surfend Feldforschung betreiben
Weshalb diese intensive Beschäftigung mit Youtube? «Ich habe mich früh für Kunst im Netz interessiert. Als sich das Internet vom HTML-basierten zu einem datenbankgestützten Web verwandelte, wollte ich an diesem Prozess teilnehmen – und ihn damit untersuchen.»
Mit «Gallery Surfing» möchte Sakrowski den Leuten die Scheu vor Netzkunst nehmen. Es soll kein Format sein, in dem er alles besser weiss. Vielmehr sei es eine Art Feldstudie, ein Annäherungsversuch, um Verständnis für Netz-Phänomene zu entwickeln.
Grenzüberschreitendes ist kaum mehr möglich
Doch wie lässt sich in der unüberschaubaren Flut eine Auswahl treffen? Für «Gallery Surfing» gilt das Kriterium, dass die besuchten Galerien nur Netzkunst ausstellen – also Kunst, die man ausschliesslich im Netz rezipieren kann.
Im Projekt «CuratingYouTube» hingegen schliesst Sakrowski nichts aus. Das Videoportal trifft mit seiner juristisch bedingten Zensur bereits eine Vorauswahl «allgemein akzeptierter Popkultur», wie Sakrowski es nennt. Streitpunkt ist unter anderem das Urheberrecht, ebenso sind Gewaltdarstellungen und Pornografie untersagt. Je nach Land unterscheiden sich die Nutzungsbedingungen zusätzlich. Richtig Schräges oder völlig Grenzüberschreitendes – was insbesondere Kunst immer wieder sein solle – könne also nicht stattfinden, betont Sakrowski.
Youtube, das neue MTV
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Als die Video-Plattform 2005 startete, reizte Sakrowski vor allem deren Offenheit. Für ihn war Youtube ein Experimentierfeld, das die Möglichkeit zur Vernetzung bot. Heute sieht er dies anders: «Youtube hat einen Zustand erreicht, der einem neuen MTV entspricht. Die Jugend schaut nicht mehr fern, sondern Youtube.» Sakrowski hat den Eindruck, die Jugendlichen stünden unter einem extremen Druck sich ständig zu vergleichen und genügend Hits und Clicks zu generieren. Das beunruhigt ihn.
War Youtube zu Beginn der Spiegel einer Gesellschaft, in der sehr vieles möglich war, ist die Plattform heute vollständig durchorganisiert und kommerzialisiert. Es gibt strenge Verträge mit Künstlern und ausgeklügelte Algorithmen, welche die Durchsetzung der Richtlinien auf technischer Ebene garantieren. Dadurch eignet sich Youtube als Ort für künstlerische Produktion nur noch bedingt.
Sakrowski kritisiert: Als Teil des Google-Imperiums stehe Youtube in der Verantwortung. Statt das Netz mit immer neuen Bestimmungen weiter zu kommerzialisieren, müsse sich der Internetriese aktiv um die Netzkultur bemühen.
Ein Netzkunst-Museum
Für die Zukunft erhofft er sich eine verbesserte Navigation: Sie würde den Zugang zum über die Jahre angewachsenen umfangreichen Archiv vereinfachen. Ohne vertiefte Programmierkenntnisse lasse sich heute kaum in den Ergebnissen surfen. Suchfunktionen nach Anzahl Views oder bestimmter Tags wären hilfreich, um im reichen Videofundus zu recherchieren.
Trotz aller kommerziell und juristisch bedingten Einschränkungen bleibe der kulturelle Wert von Youtube unbestritten. Deshalb geht Sakrowski noch weiter: «In Zukunft sollte es ein von Google finanziertes Netzkunst-Museum geben, das vernünftige Arbeit am Material leistet.»