Würde Sei Shonagon heute leben, wäre sie im Netz unterwegs, auf Twitter, Facebook oder mit einem eigenen Blog. Sei Shonagon hatte zu allem eine klare Meinung und tat diese auch kund. Auf kostbaren Notizblättern schrieb sie nieder, was sie sah, hörte und dachte. Diese Notizen sind als «Kopfkissenbuch» in die Literaturgeschichte Japans eingegangen. Kürzlich sind ihre Essays, Gedichte und Gedankensplitter erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt worden.
Schonungslos direkt
Sei Shonagon gibt mit ihren Schilderungen einen Einblick in das Leben und Denken der Menschen um das Jahr 1000 am japanischen Kaiserhof. Es ist verblüffend, wie modern ihre Texte wirken. In Japan werden noch heute Passagen ihrer Texte in der Werbung, in Popsongs und in Mangas – den japanischen Comics – verwendet.
Reizvoll am «Kopfkissenbuch» ist die Direktheit und Offenheit, mit der Sei Shonagon von ihren Beobachtungen am Hofe schreibt. Sie ist sehr klar in ihren Abneigungen und Vorlieben, schreibt selbstverständlich über intimste Dinge. Und immer schimmern dabei Witz und Selbstironie durch.
Ein Leben in Musse
Sei Shonagon lebte in der Hejan-Zeit am kaiserlichen Hof in Kyoto. Es war eine der friedlichsten Epochen Japans, die Hofleute hatten nichts anderes zu tun, als sich zu vergnügen und sich den Künsten zu widmen. Es wurde musiziert und gedichtet. Die japanische Kultur – insbesondere die Literatur – erlebte eine Blütezeit. Hier entstand die sogenannte Hofdamenliteratur.
Sei Shonagon war eine enge Vertraute der Kaiserin. Zugang zum Hof bekam eine Frau wie sie, die nicht dem Hochadel entstammte, aufgrund ihrer Intelligenz und Belesenheit. Beim Dichter-Wettstreit an den literarischen Soireen stellte sie regelmässig die Höflinge in den Schatten. Niemand gab so schlagfertige Antworten wie sie.
Kleiner Style-Guide der Hofdame Sei Shonagon
1. Was stillos ist
- Männer, die sich im Morgengrauen von ihrer Geliebten allzu hastig verabschieden
- Liebhaber, die mir von früheren Liebschaften erzählen oder gar von ihnen schwärmen
- Leute, die dem Boten, der Geschenke zu Geburtstagsfeiern überbringt, keine Belohnung geben
- Frauen, die sich ohne weitere Ambitionen mit ihrem kleinen häuslichen Eheglück zufrieden geben
- Männer, die auf Frauen im Hofdienst herabblicken oder gar schlecht über sie reden oder denken
- Eine unansehnliche Frau mit künstlichen Haarteilen, die an helllichtem Sommertag mit einem spindeldürren struppelbärtigen Mann schläft
2. Was unausstehlich ist
- Hunde, die laut losbellen, wenn der Geliebte nachts heimlich zu Besuch kommt
- Männer, die beim Trinken laut herumgrölen
- Ein Geliebter, der unter allergrösster Vorsicht leise an einem unschicklichen Ort eingelassen und versteckt wird und dann anfängt zu schnarchen
- Langweiler, die unter widerwärtigem Lachen viel leeres Geplapper von sich geben
- Leute, die immerzu auf andere neidisch sind und sich über ihre eigene Lage beklagen
- Säuglinge, die losplärren, wenn ich mich mit jemandem unterhalten will
- Jemand, der mir ins Wort fällt, wenn ich etwas erzähle und dann dreist den Schluss vorweg nimmt
3. Was schön ist
- Eine Henne, die sich durch nichts vom Brüten abhält
- Ein Bergdorf im Schnee
- Wenn sich im Spätherbst auf das welke Unkraut im Palastgarten der Tau legt gleich Juwelen, die in allen Farben funkeln
- Nächte, in denen mein Liebster zu mir kommt
- Wenn attraktive Mönche Vorträgen halten. Da fällt es mir leichter, den heiligen Sinn der Worte zu erfassen.
- An einem schrecklich heissen Tag die Hände in Eiswasser zu tauchen
4. Was Stil hat
- Männer, die Bedienstete mit guten Manieren haben
- Leute, die sich auch nach langjährigem Umgang mit der Hofgesellschaft nicht verbiegen lassen
- Menschen, die Mitgefühl besitzen
- Geraspeltes Eis mit Sirup übergossen in einer funkelnd neuen Metallschale serviert
- Violette Gewebe. Alles, aber auch alles was violett ist, finde ich ganz grossartig.
- Ein Brief auf dünnem blauem Papier, der an einen knospenden Weidenzweig gebunden ist