Ein junger Mann – weisse Hose, weisse Weste, darüber ein schwarzer Blazer – schaut entspannt und freundlich in die Kamera. Er ist ein Sohn aus reichem Hause, feingeistig mit leicht dandyhaften Zügen. Das Foto – abgebildet in der Henry James Biografie von Hazel Hutchinson – zeigt den Autor 1859 in Genf. Damals war er 16 Jahre alt und mit seinen Eltern unterwegs in Europa. Diese wollten ihren Kindern die beste, sprich europäische Bildung mitgeben.
Henry James, der bessere Europäer als die Europäer selber
Henry James ist also in zwei Welten, Amerika und Europa, aufgewachsen. Das hat ihn geprägt. Im Alter von 35 Jahren liess er sich endgültig in England nieder und nahm später die britische Staatsbürgerschaft an.
Viele seiner Romane handeln von den Gegensätzen zwischen der Alten und der Neuen Welt. Hier das dekadente und kultivierte Europa, drüben das puritanische auf Fortschritt getrimmte Amerika. Es ist eines der Lebensthemen des Autors, das er in verschiedenen Varianten durchspielte.
Party-Klatsch als Stoff für Romane
Henry James bewegte sich auf Soireen der besseren Gesellschaften. Er studierte die Damen und Herren bei den abendlichen Diners, hörte ihren Klatsch und soll dabei Ideen für viele seiner besten Romane aufgeschnappt haben.
Henry James war ein guter Beobachter. Er spürte, was die Menschen antreibt, was sie denken, auch was sie verbergen. Das Rätselhafte am menschlichen Verhalten interessierte ihn. In einer subtilen und nuancierten Sprache erzählt er von den komplexen seelischen Verwicklungen seiner Heldinnen und Helden. Der Plot ist dabei gar nicht so wichtig. Seine Romane kommen mit wenig Handlung aus. Der Autor erzählt, was im Innern der Figuren vorgeht. Darin ist er ein Meister.
Fünf neue Übersetzungen
«Washington Square» (Manesse): Eine Parabel über Liebe und Geld
Catherine ist reich und verkehrt in der besten Gesellschaft von New York. Kurz – sie ist eine sehr gute Partie. Leider ist sie blass und reizlos und macht an Empfängen keine gute Figur. Eines Tages taucht ein gutaussehender Mann auf und macht ihr den Hof. Catherine verliebt sich in ihn. Doch für ihren gestrengen Vater ist klar: Der Mann ist ein Heiratsschwindler. Er stellt Catherine vor die Wahl, entweder der Mann oder das Geld. Henry James schildert in nüchternem Ton das Innenleben der Erbin. Die Handlung ist unspektakulär, erzählt wird, was im Innern der Figur abgeht. Wie sie an der Lieblosigkeit des Vaters und dem Verrat des Geliebten beinahe zerbricht, dann aber zu innerer Ruhe findet.
«Die Gesandten» (Hanser): Ein Roman über das verpasste Leben
«Leben Sie!» Diesen Appell richtet ein Amerikaner in mittleren Jahren an einen jungen Bekannten. Der Amerikaner ist nach Paris gereist, um den Sohn einer Freundin zurückzuholen, der in Paris hängen geblieben ist. Man vermutet, dass ein unseriöses Frauenzimmer dahinter steckt. «Die Gesandten» ist ein Gesellschaftsroman, der – neben der Reflektion über das, was ein erfülltes Leben ausmacht – auch vom Gegensatz Europa und Amerika handelt. Hier die dekadente, kultivierte und genussorientierte Alte Welt, dort die puritanische, fortschrittliche Neue Welt. Ein Roman aus dem Spätwerk des Autors, der hohe Anforderungen an die Leserschaft stellt; diese aber durch feinsinnigen Humor und eine subtile Sprache belohnt.
«Die Europäer» (Manesse): Eine Komödie von Kontinent zu Kontinent
Zwei Europäer in Boston, zu Besuch bei den Wentworths. Oder: Adel trifft Finanzadel, Künstler und Bürger, um zu sehen, was sich arrangieren lässt. Wer ist wer und wer kriegt wen? Kalkül und Kapital zwischen der Alten und der Neuen Welt, das sind die Motive der Familienaufstellung in diesem frühen Roman von Henry James. Für Henry James, den amerikanischen Europäer, liegt darin ein Gewinn für beide Seiten. Sein Roman spielt es durch. Mit Witz und Ironie gibt er den Kampf der Kulturen als komödiantisches Sittenbild und Bühnenperformance. Durchaus spannend ist das zu lesen, aber auch in weiter Ferne.
«Die mittleren Jahre» (Jung und Jung): ein Selbstportrait
Ein junger Arzt und ein sterbenskranker alter Schriftsteller begegnen sich im Garten eines Hotels. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft. Der junge Mann betreut eine reiche Gräfin, die ihn zu ihrem Erben machen will, falls er bei ihr bleibt. Als der Autor ernstlich erkrankt, verlässt er die Gräfin und verzichtet auf das Geld. Eine feine Erzählung, die zum 50-sten Geburtstag des Autors erschienen ist.
«Daisy Miller» (dtv): Eine verhängnisvolle Liaison
Eine junge Amerikanerin reist durch Europa und verdreht den Männern den Kopf. Es ist nicht nur ihre Schönheit, sondern ihre ungewohnt offene und freizügige Art, welche die einen begeistert und die anderen brüskiert. Als sie in Rom offen mit einem Italiener flirtet, wendet sich die feine Gesellschaft von ihr ab. Die abenteuerlustige Amerikanerin missachtet den Verhaltenscodex der Europäer. Eine weitere Spielart von Henry James Lieblingsthema rund um gesellschaftliche Verhaltensweisen im ausgehenden 19. Jahrhundert.