Paris, 1672. Der junge Gottfried Wilhelm Leibniz taucht ein in die Welt der führenden Intellektuellen seiner Zeit. Er macht sich daran, die Mathematik zu erobern – doch sein Wissen lässt noch zu wünschen übrig. «Leibniz war ein Neuling, seine mathematischen Kenntnisse waren primitiv», sagt Donald Rutherford, Leibniz-Experte von der University of California in San Diego.
Das Unendliche fassen
Zu seinem Glück nimmt ihn der niederländische Gelehrte Christiaan Huygens unter seine Fittiche. Und Leibniz lernt schnell, extrem schnell. «Er war ganz eindeutig ein sehr kluger Kopf», so Rutherford. Bald schon macht sich Leibniz an ein hochkomplexes Problem, an die Frage nämlich, wie man die Unendlichkeit mathematisch zu fassen bekommen könnte.
Er beginnt mit der Überlegung, wie man unendliche Zahlenreihen kompakt beschreiben könnte oder wie sich die Fläche eines Kreises berechnen liesse – als Summe der Flächen von unendlich kleinen Stückchen, aus denen sich der Kreis zusammensetzt.
Am Ende dieser Überlegungen steht das, was wir heute Differential- und Integralrechnung nennen. Das ist jenes Gebiet der Mathematik, in dem mit mathematischen Funktionen hantiert wird und das bis heute an jedem Gymnasium zum Pflichtstoff gehört.
Nach gut zehn Jahren Arbeit publiziert Leibniz seine Rechenmethode in einem Fachmagazin. Eine gewaltige Leistung. Dumm nur, dass ein gewisser Isaac Newton in England diese Leistung nicht anerkennen will.
Newton hat nämlich quasi dieselbe Rechenmethode entwickelt – wenn auch noch nicht veröffentlicht. Er glaubt nun, Leibniz habe von ihm abgekupfert. Zumal der deutsche Forscher sogar zweimal kurz in London gewesen war. Vielleicht hatte Leibniz da die eine oder andere von Newtons unveröffentlichten Ideen aufgeschnappt?
Schweizer Freunde im Kampf
Jedenfalls habe Newton seinen deutschen Konkurrenten durch einige seiner Freunde verunglimpfen lassen, erzählt Rutherford. Zum Beispiel durch den Schweizer Mathematiker Nicolas Fatio de Duillier.
Der schreibt: «Von allem was mir bisher zu sehen möglich war, scheint mir, dass Herr Newton ohne Frage der erste Autor des Differentialkalküls war, und dass er es genau so gut oder besser wusste, als Herr Leibniz es nun weiss, bevor der Letztere auch nur eine Idee davon hatte.»
Es ist der Beginn dessen, was als Prioritätenstreit in die Geschichte der Wissenschaft eingegangen ist. Denn Leibniz ist logischerweise nicht erfreut. Ihm ist zwar eigentlich nicht so wichtig, der Erste gewesen zu sein. Aber als Plagiator will er sich nicht beschimpfen lassen.
Auch er mobilisiert seine Freunde, darunter den Schweizer Mathematiker Johann Bernoulli. Durch eine Laune des Zufalls sind also zwei Schweizer in diesem Konflikt die Sekundanten. In unzähligen Briefen, Traktaten und anonymen Flugblättern werden nun Argumente und Gegenargumente ausgebreitet.
Man beschimpft sich erst höflich, dann nicht mehr so höflich und intrigiert ohne Unterlass. Das Ganze zieht sich über viele Jahre hin. «Zum Schluss ist die Stimmung so vergiftet, dass Leibniz in England regelrecht als Feind der Nation betrachtet wird», sagt Rutherford.
Die Niederlage seines Lebens
Heute wissen wir, dass Leibniz nicht von Newton geklaut hat. Die beiden Forscher sind tatsächlich unabhängig voneinander auf dieselbe Lösung gekommen. Das zeigen die vielen Aufzeichnungen, die Leibniz zu seinen Überlegungen gemacht hat.
Doch der berühmte Newton wollte den Ruhm nicht teilen. So machte er Leibniz das Leben schwer. Der deutsche Forscher starb schliesslich ohne die Anerkennung, die er für seine Entdeckung der Differential- und Integralrechnung eigentlich verdient hätte. «Es war die grösste Niederlage seines Lebens», sagt Rutherford.
Am Ende allerdings, könnte man sagen, hat Leibniz doch gesiegt: Es ist nämlich seine Rechenmethode, die wir heute verwenden. Auch seine Schriftzeichen haben sich durchgesetzt, zum Beispiel das langgezogene S-förmige Zeichen für das Integral. Jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt in einem Klassenzimmer ein Teenager eine mathematische Funktion ableitet oder integriert, steckt da also ein Stückchen Leibniz drin.