- Mit der Frage, wen man sich als Nachbarn wünscht oder nicht, versuchen Forscher Vorurteilen auf die Spur zu kommen.
- Die globale Befragung «World Values Survey» zeigt: Nicht in allen Ländern herrschen die gleichen Vorurteile.
- Eine umstrittene These besagt, dass Vorurteile mit der wirtschaftlichen Lage zusammenhängen.
Ein Fussballer als Nachbar
«Die Leute finden ihn als Fussballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.» So äusserte sich der AfD-Politiker Alexander Gauland im Frühling gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Die Bemerkung war eine Beleidigung für den deutschen Nationalspieler Jérôme Boateng. Und sie unterstellte, Deutsche hätten grundsätzlich etwas gegen Menschen anderer Hautfarbe. Entsprechend heftig reagierten Fans und Öffentlichkeit.
Tür an Tür mit unseren Vorurteilen
Die Aussage, dass Leute sich gewisse andere Menschen nicht als Nachbarn wünschen, bringt Vorurteile allerdings auf den Punkt. Denn genau mit dieser Frage versuchen Forschende, Vorurteile wissenschaftlich zu fassen.
Sie tun dies im Rahmen des «World Values Survey», einer Befragung zu den Wertvorstellungen und Weltanschauungen von Menschen aus der ganzen Welt. Die Befragten müssen dabei aus einer Liste Menschen jener Gruppierungen wählen, mit denen sie nicht Tür an Tür wohnen wollen.
Minderheiten eher betroffen
«Die Frage eignet sich gut, um Vorurteile in der Bevölkerung abzufragen», meint die Psychologin Mary Kite von der Ball State University in Indiana, USA. Sie beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Vorurteile, also damit, dass wir andere Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit beurteilen.
Jeder Mensch hat latente Vorurteile, das gehört offenbar zum Menschsein dazu. Und überall auf der Welt sind Minderheiten eher mit Vorurteilen konfrontiert als Mehrheiten.
Andere Länder, andere Vorurteile
Allerdings gebe es bei Vorurteilen zum Teil deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern, so Kite. Als Beispiel hier ein Vergleich von Resultaten aus der Schweiz und Indien.
Es gibt im «World Values Survey» die Option, Personen einer anderen ethnischen Zugehörigkeit als unerwünschte Nachbarn anzugeben. Basierend darauf hat ein amerikanischer Journalist vor einigen Jahren eine Weltkarte der rassistischsten Länder erstellt.
Vorurteil oder soziale Norm?
Solche Vergleiche rufen hingegen auch Widerspruch hervor. Denn mit der «Nachbar-Frage» lassen sich Vorurteile nicht sehr präzise erfassen. Manche Befragten geben einfach jene Antwort, die sozial erwünscht ist.
Beiträge zum Thema
«Dann erfasst man nicht wirklich ihre Vorurteile, sondern die herrschenden sozialen Normen», sagt der Politologe Roberto Foa von der University of Melbourne, «beziehungsweise das, was als politisch korrekt gilt.»
Ein aufschlussreicher Weg
Soziale Normen können unterschwellige Vorurteile also überdecken oder verstärken. Dieses Problem sieht auch Michael Ochsner vom Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS) in Lausanne, das die Befragung für den «World Values Survey» in der Schweiz durchführt.
Trotzdem hält er die Frage nach den unerwünschten Nachbarn für einen aufschlussreichen Weg, um Vorurteile in verschiedenen Ländern mit den bestehenden Umfragedaten zu erforschen und international zu vergleichen.
Vorurteile ändern sich
Besonders wertvoll ist der «World Values Survey», weil er in regelmässigen Abständen durchgeführt wird. So kann man zeitliche Entwicklungen aufzeigen, wie etwa eine wachsende Ablehnung gegenüber Migranten.
Vorurteile gegenüber Migranten nehmen also vielerorts zu. Bei Vorurteilen gegenüber Homosexuellen, Drogensüchtigen und Alleinerziehenden sieht es anders aus, sagt Politologe Roberto Foa: «In vielen westlichen Ländern nehmen die Vorurteile gegenüber diesen Bevölkerungsgruppen ab.»
Schrumpft der Kuchen, wachsen die Vorurteile
Warum das so ist, darüber herrscht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit. Eine der gängigsten Thesen ist, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung Vorurteile zum Schmelzen bringt.
«Wenn der Kuchen wächst, kann man ihn auch gut mit anderen teilen», erklärt Foa. Stagniere die Wirtschaft hingegen, basieren Vorurteile auf einem Nullsummenspiel: «Wenn jemand mehr bekommt, dann bekomme ich weniger.»
Die Daten hinter den Diagrammen
Auch Populismus sorgt für Vorurteile
Das Argument mit dem Wirtschaftswachstum ist allerdings umstritten. Denn auch in Ländern, deren Wirtschaft wächst, nehmen gewisse Vorurteile zu. Da spielt auch der Populismus hinein. «Vorurteile lassen sich leicht schüren», sagt der Politologe Foa – das könne man derzeit in einigen Ländern wie den USA gut beobachten.
Dem Forscher gibt diese Entwicklung zu denken. Umso wichtiger ist ihm, dass der «World Values Survey» auch die kommenden Veränderungen gut dokumentiert. Die nächste weltweite Befragungsrunde läuft demnächst an.
Sendung: SRF 1, Einstein, 19.1.2017, 21 Uhr