Das Wichtigste in Kürze
- Als Kind fühlte sich der Biologe Bernd Heinrich orientierungslos – auch deswegen faszinierte ihn der Orientierungssinn von Tieren .
- Besonders angetan hat es ihm der Albatros: Er ist ein Extremflieger , der im ersten Lebensjahr durchschnittlich 184'000 Kilometer zurücklegt.
- In seinem Buch «Der Heimatinstinkt» kombiniert Heinrich Roman und Sachbuch – eine hinreissende Mischung .
Das Extreme scheint dem deutsch-amerikanischen Biologen Bernd Heinrich im Blut zu liegen. 1981 gewann er den Ultramarathon über 100 km in Chicago in einer Laufzeit von 6:38:12. Diesen Rekord hielt er über stolze 14 Jahre. Das Extreme und Ausserordentliche in der Natur fasziniert den emeritierten Biologie-Professor gleichermassen.
Adipöser Langstreckenflieger
Bernd Heinrich staunt über die kleine europäische Gartengrasmücke. Im Alter von zwei bis drei Monaten bricht sie im Herbst irgendwann nachts auf. Sie fliegt von Deutschland oder Dänemark nach Kenia, ohne dass sie jemals dort gewesen ist oder ihr die Eltern den Weg dorthin gezeigt haben.
Heinrich beeindruckt auch die Schnepfe. Für ihren irrwitzig langen Flug frisst sie sich Fettpolster an, so dass sie ihr Körpergewicht verdoppelt, manchmal sogar verdreifacht.
Ihren Langstreckenflug beginnt sie quasi adipös und beendet ihn schlank, indem sie für die Energieversorgung sogar Muskeln und innere Organe abbaut. Er bewundert die jungen Kraniche, die die komplexe Flugroute von ihren Eltern beigebracht bekommen.
Ziellos wie ein Blatt im Sturm
Auslöser für diese Faszination war ein riesiger Albatros. Als Zehnjähriger begegnet Bernd Heinrich diesem majestätischen Tier zum ersten Mal. Der kleine Bernd steht an der Heckreling eines Schiffes. Er, der in Westpommern – heute Polen – geboren wurde, wandert 1950 mit seinen Eltern in die USA aus.
«Ziellos kam ich mir vor, wie ein Blatt, das der Sturm vor sich hertreibt. Ich fühlte nur das Schwanken, die Gischt, die Unendlichkeit, die Wellen», so beschreibt Bernd Heinrich das Gefühl des Verlorenseins zwischen alter und neuer Heimat.
Zielsicher über das endlose Meer
Trost und Ablenkung bietet ihm ein Albatros, der plötzlich auftaucht, verschwindet und wieder aufkreuzt. Heinrich beginnt sich zu wundern, wie dieser Vogel seinen Weg ohne Anhaltspunkte über das endlose Meer findet.
Ein Forscherleben lang wird sich Heinrich mit dieser Frage beschäftigen. Für sein Buch «Der Heimatinstinkt» greift er nicht nur auf eigene Beobachtungen zurück. Er ist ein exzellenter Beobachter, für sein Buch hat er dennoch neuste wissenschaftliche Studien gelesen und Fachkolleginnen und -kollegen besucht.
Mischung aus Sachbuch und Roman
Aus diesem immensen Wissen über die strapaziösen Reisen von Tieren, ihrem immer wieder tödlichen Kampf um ein Zuhause und ihrer Orientierung am Erdmagnetfeld, Sonnenstand und an Merkmalen in der Landschaften hat Heinrich ein wunderbares Buch gemacht.
Als Wissenschaftler schreibt er exakt und referierend, als Bewunderer der Natur wird er literarisch. Entstanden ist eine hinreissende Mischung aus Sachbuch und Roman.
Oft beginnt Heinrich beim Persönlichen, um dann bei wissenschaftlichen Erklärungen und Erkenntnissen zu landen. Immer wieder garniert er das Ganze mit spannenden Details aus der Methodengeschichte.
Genetisch festgelegter Orientierungssinn
So kehrt er zu den Albatrossen zurück und seiner Frage, wie diese Tiere wissen können, wo sie sich befinden. Eine schwedische Wissenschaftlerin und ein französischer Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass junge Albatrosse Extremflieger sind.
In ihrem ersten Lebensjahr legen sie eine durchschnittliche Entfernung von 184'000 Kilometern zurück und scheinen einen genetisch festgelegten Orientierungssinn zu haben. Zumindest das Heimfindevermögen des Galapagosalbatros lässt sich durch magnetische Manipulationen nicht beeinträchtigen.
Warum Vögel, Fische oder Schildkröten einen Wandertrieb haben und zu ihren gefährlichen globalen Reisen aufbrechen, kann auch Bernd Heinrich nicht endgültig erklären. «Wir haben viel gelernt, ohne dem Bannkreis des Mysteriösen, Magischen und Mirakulösen ganz zu entkommen.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 1.3.2017, 17:06 Uhr