Einerseits feierten saudische Medien kürzlich die Vertreibung der Terrororganisation aus ihrer Hochburg Mukalla im Osten Jemens. Andererseits gibt es auch Anzeichen dafür, dass Al-Kaida im Schatten der saudischen Angriffe stärker geworden ist.
SRF News: Sie sind immer wieder im abgelegenen und umkämpften Osten des Jemens unterwegs. Was ist ihr Eindruck? Wird Al-Kaida stärker oder schwächer?
Elisabeth Kendall: Zurzeit wird Al-Kaida schwächer. Aber meine Befürchtung ist, dass die Organisation nur kurzfristig schwächer wird. Wer Al-Kaida lediglich aus den Städten vertreibt oder ihr Gebiete abnimmt, aber darauf verzichtet herauszufinden, wieso die Bevölkerung Al-Kaida toleriert, wird sie nie besiegen.
Wieso toleriert die lokale Bevölkerung die Terrororganisation?
Sie tut dies, weil Al-Kaida in Jemen ein Sicherheitsvakuum füllt. Und Al-Kaida kann sich als der «good guy» präsentieren, der sich der Sorgen der Bevölkerung annimmt und die lokalen Probleme löst.
Was unternehmen die Al-Kaida-Mitglieder konkret?
Erstens fahren sie eine flächendeckende Propagandakampagne zu ihren sogenannten «guten Diensten», wie zum Beispiel Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Strassenreparaturen, Errichtung von Schulen, auch Mädchenschulen. Sie haben zweitens auch Fischer mit Motoren für ihre Boote versorgt oder Strassen- und Kinderpartys veranstaltet. Al-Kaida hat sich der Bevölkerung auf eine heimtückische und strategische Art genähert. Deshalb wird es ein langer Kampf werden.
Aber wenn die Unterstützung für Al-Kaida bloss darauf basiert, dass sie gewisse Dienstleistungen bereitstellt, muss diese Unterstützung doch ziemlich brüchig sein?
Ja, ich denke, diese Unterstützung ist ziemlich brüchig. Ich habe den Eindruck, dass die Bevölkerung die Leute von Al-Kaida nicht mag, aber derzeit gibt es nichts Besseres. Al-Kaida tut wenigstens etwas, sie zeigt etwas Respekt gegenüber einer gerechten und fairen Herrschaftsform, und sie regiert in Zusammenarbeit mit lokalen Gruppierungen. Die zentrale Regierung wurde dagegen als sehr korrupt angesehen. Das war eine Herrschaft, die von oben kam. Al-Kaida verfügt über einen etwas besseren Sinn für eine Regierung von unten. Und das funktioniert.
Die Leute sehen, dass al-Kaida die Reichen ausraubt, um die Armen zu unterstützen.
Wie finanziert sich Al-Kaida in Jemen?
Das ist eine gute Frage. Die Gruppe hat Steuern für die einfache Bevölkerung abgeschafft. Dafür haben sie den Unternehmen hohe Steuern auferlegt. Das hat eine Art Robin-Hood-Kultur geschaffen. Die Leute sehen, dass Al-Kaida die Reichen ausraubt, um die Armen zu unterstützen. Aber es gibt noch wichtigere Einnahmequellen, wie etwa den Hafen von Mukkala, den Al-Kaida bis vor ein paar Wochen kontrollierte. Zudem finanziert sich die Gruppe über den Schmuggel und wohl auch über Lösegelder für Opfer von Entführungen.
Im Westen ist Al-Kaida bekannt für brutale Methoden der Bestrafung gemäss der Scharia. Stossen solche Strafen die Bevölkerung nicht ab?
Das stösst eine Mehrheit der lokalen Bevölkerung ab. Deshalb ist Al-Kaida in Jemen viel vorsichtiger bei der Anwendung der Scharia gewesen. Es ist eine delikate Balance, die Al-Kaida anstreben muss. Sie muss auf der einen Seite die Gläubigen, Ideologen und Mudschahedins, die alle die Scharia konsequent umgesetzt sehen wollen, zufriedenstellen. Und sie muss dafür sorgen, dass die lokale Bevölkerung, die nicht will, dass die teuflischen Strafen der Scharia angewandt werden, glücklich ist.
Der Westen und im Besonderen die USA haben versucht, Al-Kaida militärisch auszumerzen. Augenscheinlich mit wenig Erfolg. Was muss geändert werden, um dieses Ziel zu erreichen?
Ich bin nicht gegen militärische Gewalt. Aber sie allein genügt nicht, um Al-Kaida auszulöschen. Um die Terrororganisation aus dem Land zu vertreiben, müssen wir die Unzufriedenheit, die Marginalisierung, den Mangel an Repräsentation, die schlechten staatlichen Dienstleistungen sowie die fehlende Hoffnung der jungen Generation zum Thema machen. Wenn wir das nicht tun, werden wir nicht verstehen, wieso Al-Kaida an Popularität gewinnt.
Sie sind eine britische Frau mit roten Haaren, die ihre Forschung in einer sehr konservativen, muslimischen Region betreibt. Wie können Sie dort arbeiten?
Es hilft, dass ich nicht für eine Regierungsorganisation, sondern völlig unabhängig an der Universität von Oxford arbeite. Und ich forsche über Poesie. Alle lieben es, über Poesie zu sprechen. Zudem bin ich völlig verschleiert in Jemen unterwegs, so ist mein rotes Haar ist nicht zu sehen. Um ehrlich zu sein: Eine Frau zu sein, hilft. Die lokalen Stämme sind sehr gastfreundlich und respektvoll. Ich spreche arabisch und interessiere mich für ihre Kultur. Und als Frau kann ich mit 100 Prozent der Bevölkerung sprechen. Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich nur mit Männern sprechen und würde sehr viele Informationen, über die Frauen verfügen, verpassen.
Sie erforschen die Rolle der Poesie im Dschihadimus. Was hat Poesie mit Dschihadismus zu tun?
Mehr als Sie denken. Poesie hat viel mit der dschihadistischen Bewegung zu tun. Poesie ist ein Teil der Kultur Jemens. Die Al-Kaida-Führer benutzen sie zum Beispiel in Magazinen, um die Bevölkerung zu erreichen. In einer Umfrage haben 74 Prozent die Poesie als wichtig oder gar sehr wichtig bezeichnet – und zwar im alltäglichen Leben, nicht nur zu speziellen Gelegenheiten.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.