Einen Tag vor dem Beginn des Weltwirtschaftsforums in Davos empfing Bundesrätin Viola Amherd in Bern den chinesischen Premierminister Li Qiang. Die Stimmung wirkte gelöst, besprochen wurden die laut Verteidigungsdepartement «tiefen und vielfältigen bilateralen Beziehungen» der beiden Länder.
China und die Schweiz pflegen seit 1950 diplomatische Beziehungen. Doch die Stimmung war bei weitem nicht immer so ausgelassen und entspannt wie am Montag im bernischen Kehrsatz.
«Free Tibet!»
Es ist der 25. März 1999. Chinas Staatsoberhaupt Jiang Zemin wird in Bern erwartet. Die Schweiz ist Teil seiner Europareise, die weiter durch Italien und Österreich führt. Chinas Interesse gilt Wirtschaftskontakten. Die Erwartungen in Bern sind hoch. Jiang Zemin ist ein mächtiger Gast, den man nicht erzürnen will.
Doch genau das passiert: Vor dem Haupteingang des Bundeshauses versammeln sich Bundespräsidentin Ruth Dreifuss sowie ihre Bundesratskollegen und deren Gattinnen auf dem roten Teppich. Die Ehrenkompanie und die Militärkapelle stehen bereit. Jiang Zemin wird um 15 Uhr erwartet. Doch Chinas Staatsoberhaupt verspätet sich.
Derweil am Rande des Bundesplatzes: Tibetische Fahnen wehen in der Luft. Plakate werden entrollt. Die Demonstranten skandieren «Free Tibet!».
Auf den Dächern tauchen weitere Tibet-Aktivisten auf. Trillerpfeifen schrillen, farbige Ballone steigen auf, daran Banner, auf denen «Dialog» und «Tibet» steht. Die Polizei schreitet nicht ein.
Dann trifft das chinesische Staatsoberhaupt doch noch ein. Und rasch wird klar: Jiang Zemins Stimmung war auch schon besser. Die Ehrenkompanie und auch den Bundesrat beachtet er nicht. Lediglich Bundespräsidentin Ruth Dreifuss schüttelt er die Hand. Nur kurz.
«Sie haben einen guten Freund verloren.»
Streitpunkt Menschenrechte
Auch danach, in der Wandelhalle, bleibt die Situation angespannt. Jiang Zemin faucht Arnold Koller, den damaligen Justiz- und Polizeiminister, an: «So etwas habe ich noch nie gesehen – in keinem Land.»
Nach dem missglückten Empfang tritt Bundespräsidentin Dreifuss vor die Medien und hält ihre Begrüssungsrede. Ein wesentlicher Bestandteil: das Thema Menschenrechte. Die gegenseitige Achtung der beiden Nationen erlaube es, «im beiderseitigen Dialog auch kritische Punkte offen und freimütig zur Sprache zu bringen.»
Das sieht Jiang Zemin offensichtlich anders. Schon bald schiebt er das vorbereitete Manuskript beiseite. Sichtlich wütend. «Sind Sie nicht in der Lage, dieses Land zu führen?» Ein Giftpfeil an die Adresse von Bundespräsidentin Dreifuss und der restlichen Landesregierung.
Doch damit nicht genug. Zeming doppelt nach: «Sie haben einen guten Freund verloren.»
Der rettende Bergkristall
Dass der Besuch nicht abgebrochen wird, liegt weniger am Gast als an Ruth Dreifuss. Immer wieder schafft sie es, Jiang Zemin zu beruhigen – wenn auch jeweils nur knapp.
Beim Staatsdinner am Abend droht die Situation erneut zu eskalieren. Denn Bundespräsidentin Dreifuss will erneut die Menschenrechtslage in China thematisieren. Zemin kocht, will den Tisch verlassen. Die Wogen glätten sich erst, als Adolf Ogi einen Bergkristall aus dem Hosensack zieht und ihn Zemin schenkt.