SRF: Was wissen Sie über den jüngsten Anschlag im Norden Nigerias?
Patrik Wüsler: Wie immer bei solchen Anschlägen sind die Auskünfte der nigerianischen Regierung vage. Man weiss aber aus verschiedenen Quellen, dass sich der Vorfall heute beim Morgenappell in einer staatlichen Schule in der Stadt Potiskum im Bundesstaat Yobe in Nordnigeria ereignet hat. Ein Selbstmordattentäter soll sich mit einem Sprengstoffrucksack auf den Schulhof begeben und in die Luft gesprengt haben. Dabei seien 47 Schüler getötet und über 70 verletzt worden.
In Nordnigeria kommt es immer wieder zu Anschlägen durch Boko Haram. Ist dies ein weiterer?
Es gibt immer wieder Anschläge auf Behörden, Busbahnhöfe, Banken und vor allem auf Kirchen. Und in jüngster Zeit eben auch immer wieder auf Schulen. Allein in diesem Jahr sind 5000 Menschen in Nigeria bei Anschlägen von Boko Haram ums Leben gekommen. Das Besondere bei diesem Fall ist die sehr hohe Opferzahl. Aber auch die besondere Grausamkeit. Mit einem Rucksack voller Sprengstoff auf einen Schulhof zu spazieren und sich in die Luft zu sprengen, zeugt von besonderem Fundamentalismus. Davon, dass man seine Ideologie ohne Rücksicht durchsetzt.
Warum sind immer wieder Schulen Ziele von Anschlägen?
Eine mögliche Erklärung finden wir im Namen dieser islamistischen Terrororganisation. Boko Haram heisst frei übersetzt so viel wie «westliche Bildung ist Sünde». Eigenständiges, kritisches Denken, wie man es im Westen vermittelt, ist nicht gefragt, sondern absoluter Gehorsam und eine rigide Auslegung des Islam. Diese ist für Boko Haram nur in Koranschulen gegeben, wo Kinder nur Arabisch lernen – und auch dies zum Teil nur bruchstückhaft. Sie lernen nur soviel, dass sie Koran-Verse auswendig lernen und rezitieren können.
Die Regierung hatte vor drei Wochen verkündet, sie habe mit Boko Haram eine Waffenruhe vereinbart. Die im Frühjahr entführten Schülerinnen kämen bald frei. Der Chef der Gruppe will davon aber nichts wissen. Was stimmt?
Abubakar Shekau, der Anführer von Boko Haram, hat sich in den vergangenen Stunden sogar über die nigerianische Regierung lustig gemacht. Diesen Frieden habe es nie gegeben und die Mädchen seien bereits verkauft und könnten gar nicht mehr freikommen.
Es gibt zwei Theorien: Die eine besagt, dass die Regierung gar nie ein Abkommen mit Boko Haram geschlossen hat und die Bevölkerung nur beruhigen wollte. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierung Informationen verbreitet, die sich dann als falsch erweisen. Auch möglich und von vielen Experten als plausibel eingeschätzt wird die Variante, dass die Regierung mit Unterhändlern tatsächlich eine Übereinkunft getroffen hat. Dies aber ohne zu wissen, mit wem sie da eigentlich verhandelt. Boko Haram ist nicht eine hierarchische Organisation, sondern in Zellen aufgebaut. Es könnte sein, dass die nigerianische Regierung mit Leuten verhandelt hat, die gar nicht dazu berechtigt waren.
Wie schätzen Sie die Chancen auf eine Waffenruhe in naher Zukunft ein?
Die Terrorgruppe Boko Haram regiert jetzt bereits seit über zehn Jahren mit Gewalt im Norden Nigerias. Es gab über 10'000 Tote in dieser Zeit. Boko Haram besetzt heute ein Territorium, das grösser ist als drei nigerianische Bundesstaaten. Bis heute ist es dem Präsidenten und insbesondere der Armee nicht gelungen, die Kontrolle zurück zu erlangen. Von da her erachte ich die Chancen als eher klein.
Das Gespräch führte Simone Weber.