Das Bild des islamistischen Terroristen ist gezeichnet. Migrationshintergrund und Perspektivlosigkeit in einer tristen europäischen Vorstadt sind die Merkmale. Aber stimmt das überhaupt?
Terror statt Perspektive
Da wären beispielsweise die Pariser Attentäter. Abdelhamid Abaaoud, der vermeintliche Drahtzieher hinter den Pariser Terroranschlägen, wurde von seinen Eltern zeitweise auf eine Elite-Schule in Brüssel geschickt. Bilal Hadfi, einer der Männer, die sich vor dem Stade de France in die Luft sprengten, absolvierte eine Elektrikerlehre.
Auch Kevin und Mark K. waren nicht perspektivlos, sie hatten nicht einmal einen Migrationshintergund. Die beiden Deutschen aus Castrop-Rauxel erfüllten keines der gängigen Terroristen-Klischees. Die Brüder stammten aus bürgrlichen Verhältnissen. Kevin studierte Rechtswissenschaften, Mark war Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Und trotzdem schlossen sie sich dem IS an. Beide sollen 2015 für die Terrororganisation bei Selbstmordattentaten zu Tode gekommen sein.
Sie alle hatten eine Perspektive und wählten doch den Terror. Muss das Profil des typischen IS-Terroristen also neu justiert werden? Zwei Experten zeichnen ein differenzierteres Bild des Islamisten.
«Das sind keine Versager»
Thomas Mücke ist Mitbegründer und Geschäftsführer von Violence Prevention Network aus Berlin. Das Projekt arbeitet präventiv gegen jede Form des Extremismus. Mücke räumt mit dem Vorurteil des perspektivlosen Jugendlichen auf. Zwar kämen einige der späteren IS-Anhänger aus prekären Familienverhältnissen, doch könne auch der Sohn eines Polizeibeamten oder die Tochter einer Lehrerin zum Islamisten werden, erklärt er im Gespräch mit SRF News.
Ahmad Mansour kennt sich aus mit muslimischen Jugendlichen. Der 39-Jährige ist Psychologe arabisch-israelischer Abstammung und arbeitet in verschiedenen Präventionsprojekten in Deutschland. Er erklärt: «Das sind keine Versager, keine Menschen ohne Perspektive, das sind nicht Jugendliche, die Diskriminierungserfahrung haben.» Radikale seien an den Unis oder hätten Arbeitsplätze, sagt der 39-Jährige.
Im Gegenteil: Für ihn sind die Leute, die mit der Erklärung der Perspektivlosigkeit kämen, Teil des Problems. Denn die Gründe für die Radikalisierung seien viel komplexer, erklärt Mansour im Tagesgespräch bei Radio SRF 4.
Radikale als «Sozialarbeiter»
Mansour sieht in den Anschlägen vom 13. November das Produkt unserer Gesellschaft. Die Täter seien Teil dieser Gesellschaft und trotzdem würden sie diese ablehnen. «Das sind Jugendliche, die auf der Suche nach Orientierung und Halt sind.» Angebote kämen dann von Salafisten. Die seien heute die «besseren Sozialarbeiter», sagt Mansour. «Sie warten nicht vor den Moscheen auf die Jugendlichen. Sie gehen dahin, wo die Jugendlichen sind.» Wir hätten dagegen nicht einmal angefangen, Konzepte zu entwickeln, um diese Jugendlichen zu erreichen, erklärt er.
Die Salafisten böten eine alternative Vaterfigur, einen Gott, der nicht mit sich diskutieren lasse, der mit dem Himmel belohne, sagt Mansour. Mücke ergänzt, dass die Extremisten mit einem Wir-Gefühl locken würden – als Ersatzfamilie fungieren.
Reflektion? Fehlanzeige!
Für den Psychologen Mansour sind dabei längst nicht nur muslimische Jugendliche gefährdet. Mansour nennt sie einfach «Jugendliche». Mücke äussert sich ähnlich. Er sagt mit Blick auf die Jugendlichen: «Es kann jeden treffen». Es seien eben auch nicht nur Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich radikalisieren. Zahlreiche Konvertiten beispielsweise hätten gar keinen Migrationshintergrund.
Perfide sei, so Mücke, dass die Jugendlichen als religiöse Analphabeten einer Ideologie ausgesetzt werden, in der Reflektion nicht präsent sei. «Du sollst nicht fragen – du sollst nur folgen.» Mücke redet deshalb häufig mit Jugendlichen über den Islam, um ein anderes Bild der Religion zu vermitteln. Vor allem aber müsse verhindert werden, dass die Jugendlichen nach Syrien oder den Irak ausreisen und dort weiter radikalisiert werden.
Kritik an den Muslimen
Ein Umdenken fordert Ahmad Mansour. «Wir können nicht warten bis Islamismus in Gewalt umschlägt. Wir müssen viel früher anfangen präventiv zu arbeiten, diese Jugendlichen zu erreichen bevor es die Islamisten tun.» Das Augenmerk richtet Mansour dabei auf die Arbeit in den Schulen und im Internet.
Um dem etwas entgegenzusetzen müsse die innerislamische Gemeinschaft umdenken, sagt der Psychologe Mansour. «Die Muslime müssen den Islam jugendgerecht präsentieren», fordert Mansour und kritisiert die bisherige Haltung der Muslime in Europa. «Haben wir einen Menschen gerettet mit dem Satz ‹Das hat mit dem Islam nichts zu tun›? Haben wir eine ehrliche innerislamische Debatte geführt? Nein. Das ist zu billig. Da ist zu wenig.»