Aus juristischer Sicht ist es klar: Paragraf 103 des deutschen Strafgesetzbuches stellt die Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten unter Strafe. Allerdings nur, wenn sich diese in amtlicher Funktion in Deutschland aufhalten.
Dennoch liegt eine Verbalnote aus Ankara, welche eine Strafverfolgung verlangt, bereits auf dem Tisch von Kanzlerin Angela Merkel. Das Bundeskanzleramt, das Justizministerium und das Auswärtige Amt wollen abklären, ob die Mainzer Staatsanwaltschaft ermächtigt wird, Ermittlungen durchzuführen. Soweit die juristische Komponente.
Unklar ist, ob Recep Tayyip Erdogan ein Recht darauf hat, sich auf diesen Paragrafen zu berufen. Wenn aber einer Ermächtigung von Seiten der deutschen Regierung stattgegeben werden sollte, muss diese juristisch wasserdicht sein, erklärt SRF-Deutschland-Korrespondent Adrian Arnold.
Wackelt das EU-Flüchtlingsabkommen?
Gleichzeitig betonte der Sprecher der Kanzlerin, Steffen Seibert, dass für Merkel der Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes über die Presse- und Meinungsfreiheit oberstes Gut sei. Das wertet Arnold als ein Zurückkrebsen Merkels von früheren Aussagen, wonach sie ihrem Amtskollegen Ahmet Davutoglu gesagt habe, das Schmähgedicht von Böhmermann sei ein «bewusst verletzender Text». Damals sei die Affäre nicht so hochgehängt worden und Merkel hätte hier vorschnell gehandelt. Merkel hoffte damals wohl, die Sache sei mit dem Telefonat an Davutoglu und ihrer verbalen Verurteilung des Gedichts für Erdogan erledigt.
Doch eigentlich geht es um etwas ganz anderes. Die Bundeskanzlerin bangt um das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. «Sie weiss, dass dieses Abkommen über ihre Zukunft entscheidet», erklärt Arnold. Nun habe sie erkannt, dass die Böhmermann-Affäre weitere Kreise ziehe. Dadurch gerät sie aussen- und innenpolitisch in die Zwickmühle.
Wenig Interesse in Ankara
Und wie sieht man das in Ankara? In der Türkei wird die ganze Affäre nicht so heiss gegessen, wie sie in Deutschland gekocht wurde. Hier dominieren andere, wichtigere Themen wie das Flüchtlingsabkommen selbst, der Aufbau der Kurdengebiete oder eine geplante Verfassungsänderung, erklärt SRF-Korrespondentin Ruth Bossart in der Türkei.
Zudem hingen die Medien in der Türkei am Gängelband der Regierung. Eine oppositionelle Presse gebe es kaum mehr, so Bossart. Die Böhmermann-Affäre werde darum praktisch nur auf Social-Media-Kanälen kritisch diskutiert und dort vor allem von städtischen Nutzern, die sowieso Erdogan gegenüber meist kritisch eingestellt sind.
Innenpolitisch kann sich Erdogan als starker Mann profilieren, da sind sich die beiden Korrespondenten einig. Er ist ein alt gedienter Politfuchs, der jede Gelegenheit nutzt, um zu punkten. Die Böhmermann-Affäre werde längerfristig kaum Auswirkungen haben auf das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara. «Im Moment wird für das heimische Publikum gebrüllt», erklärt Bossart. «Gebrüllt» werde auch für die türkische Diaspora in Deutschland. Dort gebe es viele Anhänger von Erdogan.
Merkels Glaubwürdigkeitsproblem
Die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind laut Ruth Bossart nicht beschädigt. Dafür stehe zu viel auf dem Spiel. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen seien zu wichtig, damit sie Erdogan aufs Spiel setzen würde. Zudem habe der türkische Präsident in Europa nicht mehr so viele Freunde und werde sich darum hüten, die Beziehung zu Merkel weiter zu belasten.
Merkel selber stehe vor einem Glaubwürdigkeitsproblem, ist Adrian Arnold überzeugt. Zum einen könne sie nicht immer Erdogan anprangern, er trete die Pressefreiheit in seinem Land mit Füssen und gleichzeitig sei sie dann nicht bereit, diese in ihrem Land zu verteidigen. Zum anderen schaffe sich die Kanzlerin ein innenpolitisches Problem, wenn sie Ankara nachgebe und dafür das O.K. für ein Verfahren gebe.