Einwanderung aus der EU: Cameron bekommt seine «Notbremse»
Nach der Ost-Erweiterung von 2004 öffnete Grossbritannien vorbehaltlos seine Grenzen; drei Millionen EU-Bürger, vornehmlich aus dem Osten, kamen. Später forderte Premier Cameron, wie die Schweiz, eine Beschränkung der Einwanderung – und prallte an der «Berliner Mauer» ab: Das Prinzip der Personenfreizügigkeit sei nicht verhandelbar, so die deutsche Kanzlerin Merkel im Herbst 2014. Vielen Schweizern dürften diese Worte bekannt vorkommen.
Cameron änderte seine Strategie – mit Erfolg: Eine «Notbremse» erlaubt es Grossbritannien nun, neu eingewanderten EU-Bürgern den Zugang zu gewissen Sozialleistungen für maximal sieben Jahre zu verweigern. Das gilt dann, wenn die Zuwanderung auf ein «aussergewöhnliches Mass» steigt und eine Überlastung des Sozialsystems festgstellt wird. Ein einzelner EU-Bürger darf nur für maximal vier Jahre von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Die Regelung gilt für alle EU-Staaten. EU-Ratspräsident Tusk brachte den Vorschlag erst wieder ins Spiel. Umgesetzt wird er dann, wenn die Briten bei ihrem Referendum für einen EU-Verbleib stimmen.
Ist ein britischer Austritt realistisch? Welche Folgen hätte er?
Die Brexit-Debatte wirft grundsätzliche Fragen auf: Warum haben die Engländer – denn nur um sie geht es – derartige Verdauungsprobleme mit der europäischen Integration? EU-Turbos sind rar gesät, Befürworter werfen pragmatische Gründe für einen Verbleib in die Waagschale: Es überwiegen wirtschaftliche Argumente.
Trotz der wenig leidenschaftlichen Beziehung zu Brüssel: Gegenwärtig wird von einem Verbleib Gossbritanniens in der EU ausgegangen. Das Neue schreckt ab – das schottische Referendum lässt grüssen. Erschwerend kommt hinzu: Die EU-Gegner lehnen Tusks Vorschläge zwar auf breiter Front ab. Sie seien ein Witz. Untereinander sind sie aber zerstritten. Und ein glaubwürdiges Szenario für einen nationalen Alleingang haben sie noch nicht skizziert. Mit erschwertem Marktzugang in die EU rechnen sie nicht, doch sie könnten sich täuschen: Die EU wird von den Briten kaum einen geringeren Preis für den Zugang zum Binnenmarkt verlangen als von der Schweiz oder Norwegen.
Überlebt Grossbritannien einen Austritt?
Die Schotten, die Waliser und die Nordiren werden für einen Verbleib in der EU stimmen. Die schottische Regierung bekräftigte mehrfach, sie werde nicht erlauben, dass Schottland die EU gegen den Willen ihrer Bürger verlasse. In diesem Falle droht ein neuerliches Referendum über die schottische Unabhängigkeit – mit hohen Erfolgschancen.
Was steht für die EU auf dem Spiel?
Eine selbstbestimmte britische Insel wäre ein veritables Gegenprojekt zur Brüsseler Doktrin. Die wirtschaftlich dominante Achse London-Berlin würde sich gen Osten und Süden verschieben. Zudem würde die EU einen weltpolitisch gewichtigen Akteur verlieren: Die Atommacht Grossbritannien sitzt im UNO-Sicherheitsrat, das Erbe des Commonwealth umspannt den Globus.
Bei allen Ängsten, das Referendum birgt auch Chancen: Ein Ja der Briten würde der EU demokratische Legitimation geben. Eine Revitalisierung in Zeiten, da das einstige Friedensprojekt eher als Problemlösungs-Union empfunden wird.
Warum ist der Euro den Briten ein Dorn im Auge?
Das Pfund Sterling gehört zu Grossbritanniens DNA – ein Beitritt zum Euro steht auf absehbare Zeit nicht nur Debatte, die Briten verfügen über einen permanenten Dispens («Opt-out»). Im Zuge der europäischen Schuldenkrise hat sich die Euro-Zone derweil stark weiterentwickelt: Die Finanzminister verrichten, etwa beim drohenden «Grexit», nicht nur Löscharbeiten – sie reformieren die Währungsunion beständig und vertiefen die Verflechtungen untereinander. Die Briten unterstützen diese Bestrebungen zwar, wollen aber verhindern, dass sie selbst von den Euro-Ländern überstimmt werden. Sie fürchten namentlich um die Wettbewerbsvorteile des Finanzplatzes London.
Grundsätzlich können die Euro-Länder die Nicht-Mitglieder mit qualifizierter Mehrheit in zahlreichen Bereichen dominieren. Auch hier zeigt Tusk Verständnis: Die Nicht-Euro-Länder sollen bei Beschlüssen der Euro-Zone besser einbezogen werden. Ein britisches Veto gegen eine weitere Integration des Euro-Raumes gibt es aber nicht. Zudem will London eine wettbewerbsfähigere EU, eine Vertiefung des Binnenmarkts und Bürokratieabbau.
Mehr macht den nationalen Parlamenten?
David Cameron hatte im Vorfeld des EU-Gipfels zum Brexit für mehr Mitspracherechte der nationalen Parlamente gekämpft. Auch hier war er aus seiner Sicht erfolgreich. Die nationalen Parlamente sollen ein stärkeres Mitspracherecht bekommen und EU-Gesetze kassieren oder Änderungen verlangen können, wenn sie insgesamt mehr als 55 Prozent der für die Parlamente vorgesehenen Stimmen repräsentieren.
Für das britische Publikum könnte das wie ein grosser Sieg klingen. Denn schon heute verfügen die EU-Mitgliedsstaaten bei jeder Vertragsänderung über ein Veto-Recht – von dem gerade die Briten immer wieder Gebrauch machten. Und schon 2011 hat die konservativ-liberale Koalition in London ein Gesetz verabschiedet, wonach jeder weitere Kompetenztransfer dem Referendum unterstellt ist. Trotzdem: EU-Ratspräsident Tusk rüstete vor dem Gipfel schon einmal rhetorisch ab: Die «immer engere Union» beziehe sich vor allem auf die gemeinsamen Werte – und beinhalte keine politischen Forderungen.