Nach mehr als zehnjähriger Haft ist der russische Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski wieder auf freiem Fuss. Der Oppositionelle und frühere Oligarch habe das Gefangenenlager an der Grenze zu Finnland um 12.20 Uhr Moskauer Zeit (9.20 Uhr MEZ) verlassen, bestätigte sein Anwalt.
Von Russland ist Chodorkowski direkt nach Berlin gereist, wo er am Abend vom ehemaligen deutschen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher begrüsst wurde.In einer Mitteilung bedankte sich Chodorkowski bei all seinen Unterstützern und betonte, dass seine Gedanken bei jenen sei, die noch immer in den Gefängnissen inhaftiert seien.
Der 86-jährige Hans-Dietrich Genscher habe sich während seiner Haft für ihn stark gemacht. Er war denn auch der erste, der mit Chodorkowski nach seiner Landung sprechen konnte. Zu Spiegel Online sagte Genscher, Chodorkowski sei «erschöpft, aber sehr glücklich, endlich in Freiheit zu sein».
In Berlin wurde Chodorkowskis Mutter aufgrund eines Krebsleidens behandelt. Diese konnte am 11. Dezember das Krankenhaus allerdings verlassen und reiste zurück nach Moskau, wo sie sich laut SRF-Korrespondent Christof Franzen zur Zeit aufhält.
Noch keinen Kontakt zu den Eltern
Wie der Vater des 50-Jährigen dem SRF-Korrespondenten erzählte, hätten die Eltern noch nicht mit Chodorkowski sprechen können.
Über die möglichen Reisepläne seines Sohnes wisse Boris Chodorkowski zur Zeit noch nichts. Aber die Eltern setzten alles daran, ihren Sohn nach zehn Jahren Kontakt nur durch Gefängnisscheiben oder Telefon endlich wieder zu sehen. «Sei es sogar auf dem Nordpol», wie der Vater betont.
Auch das Schweizer Aussendepartement (EDA) hat keine Kenntnisse von Chodorkowskis Reiseplänen. Bei der Schweizer Botschaft in Moskau sei kein Visumsgesuch von Michail Chodorkowski eingegangen, antwortet das EDA auf eine entsprechende Anfrage.
Putins unerwartete Begnadigung
Am 12. November reichte Chodorkowski bei Wladimir Putin ein Begnadigungsgesuch ein, welches dieser am Freitagmorgen unterzeichnet hatte. Der russische Präsident begründete seine Entscheidung mit der Erkrankung von Chodorkowskis Mutter.
Der frühere Ölmagnat hatte zuvor mehr als zehn Jahre in Haft verbracht und sollte eigentlich erst in acht Monaten freikommen. Das Angebot, ein Gnadengesuch zu stellen, hatte er zuvor stets abgelehnt. Chodorkowski war unter anderem wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden.
Baldige Freilassung weiterer Gefangener wahrscheinlich
«Das ging so schnell, weil Putin es wollte», sagt SRF-Korrespondent Christof Franzen, und verweist auf die medienwirksam inszenierte Ankündigung vom Vortag. Es sei davon auszugehen, dass nun auch die Bandmitglieder von Pussy Riot bald freikämen. Bei den Greenpeace-Aktivisten dürfte es wegen fehlender Visa bis Ende Jahr der Fall sein.
Über die Bedingungen, unter denen Chodorkowski nun freikommt, kann gemäss SRF-Korrespondent Franzen nur spekuliert werden. Es habe Forderungen auf beiden Seiten gegeben.
Putin will vor Sotchi punkten
Der russische Journalist Alexander Sambuk stellt Putins Gnadenakte in Zusammenhang mit den Olympischen Spielen. «Der Kremlchef will vor Sotchi innen- und aussenpolitisch einige Punkte sammeln, indem er sich menschlich zeigt», sagt er gegenüber SRF und erinnert an die Absagen diverser westlicher Politiker.
Sambuk hält einen Bericht der gut informierten Zeitung «Kommersant» für glaubwürdig, wonach Putins Geheimagenten mit Chodorkowski direkt in der Strafkolonie über ein Gnadengesuch verhandelt haben. Dies würde auch erklären, warum weder Anwälte noch Verwandte davon gewusst hatten.
Chodorkowsi sei wohl die Freiheit unter der Bedingung versprochen worden, das Land zu verlassen – allenfalls unter Androhung eines weiteren Prozesses, vermutet Sambuk.
Kritische Kommentare, doch Freude überwiegt
Kritische Zeitungskommentatoren äussern gemäss Sambuk eine gewisse Enttäuschung über das Gnadengesuch, weil die Leitfigur der Opposition damit ein indirektes Schuldeingeständnis liefere. Insgesamt freuten sich die Sympathisanten aber auf die Freilassung: «Viele Menschen betrachteten Chodorkowski unabhängig von ihrer politischen Überzeugung für einen politischen Gefangenen Putins.»